„Können Sie beweisen, dass Sie tot sind?“

PJ liest Ben Aaronovitchs „Die Flüsse von London“ und „Schwarzer Mond über Soho“:

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Ja, Vestigium muß man spüren können, dann erlebt man die verücktesten Dinge, redet mit Flußgöttinnen, killt Vampire und klärt geheimnisvolle Todesfälle auf. Man bekommt wie Harry Potter einen Meister und lernt in einer Art Hogwarts magische Kräfte zu entwickeln.

Doch der Reihe nach: Peter Grant, ein junger Police Constable, wird zu mitternächtlicher Stunde für einen langweiligen Job eingeteilt. Er soll den Fundort einer Leiche mitten in London absichern, bis bei Tageslicht die Spurensicherung loslegen kann. Der Sohn afrikanischer Eltern – nicht gerade ein Muster-Polizeischüler – kann aber dann einen wichtigen Zeugen direkt am Tatort vernehmen. Nicholas Wallpenny hatte alles ganz genau gesehen.

„Wenn Sie alles beobachtet haben, … , sollten Sie mit mir zum Polizeirevier kommen, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können.“ – „Wäre ein bißchen schwierig“, meinte Nicholas. „Da ich tot bin.“

„Können Sie beweisen, daß Sie tot sind?“, fragte ich. „Wenn Euch daran liegt“, sagte er gleichmütig und trat aus dem Schatten der Säule. Er war transparent, ungefähr so wie ein Hologramm in einem Film. Dreidimensional, wirklich und wahrhaftig vorhanden, aber eben doch durchsichtig, verdammt nochmal. … Okay, sagte ich mir, auch wenn du gerade mal kurz durchgeknallt bist, heißt das noch lange nicht, daß du deine Ausbildung als Polizist vergessen darfst. „Bitte schildern Sie mir, was Sie beobachtet haben“, sagte ich formell.

PJ liest Die Flüsse von LondonDiese recht ungewöhnliche Zeugenbefragung ist erst der Einstieg in die ungewöhnliche Karriere Peter Grants in Ben Aaronovitchs Urban Fantasy. Denn Grant besitzt die Gabe „Vestigium“ zu spüren; „Spur“ bedeutet das und sein Meister erklärt ihm, es deute auf…

„Das Unheimliche!“, antwortete Nightingale. „Sie können es mit einem optischen Effekt vergleichen. Wenn man in helles Licht schaut und dann die Augen schließt, bleibt ein sogenanntes Nachbild zurück. Was Sie soeben wahrgenommen haben, ist ein solches Nachbild, eine Art Spur. Und deshalb spricht man von Vestigium, …“
„Und woher weiß ich, daß ich mir das alles nicht nur einbilde?“, wollte ich wissen. „Das ist Erfahrungssache. Nach einer Weile lernen Sie, den Unterschied zu erkennen.“

Und er lernt noch viel mehr. Harry Potter in Polizei-Uniform, in einem Hogwarts, das hier „Folly“ heißt und nur aus seinem Lehrer Nightingale und ihm besteht. Ach so, da ist noch Molly mit ihrem bleichen Gesicht und den spitzen Zähnen und ihrer Vorliebe für rohes Fleisch …

Im Nachfolge-Band „Schwarzer Mond über Soho“ erfahren wir, daß es früher tausende von Magiern allein in Groß-Britannien gegeben hatte, die aber (fast) alle im 2. Weltkrieg getötet wurden (Im ersten Weltkrieg gab es ein Abkommen mit den Deutschen, keine Magie einzusetzen…).

So richtig ernst wird es für Peter Grant zum ersten Mal, als er mit seinem Meister Vampire jagen muß.

„Der Keller war klein und schmal. … In die Mitte des Raumes hatte man eine alte Matraze gelegt; darauf lagen zwei Vampire. Sie sahen wie Obdachlose aus, altmodische Landstreicher, die mehrere Schichten zerschlissener Klamotten übereinander trugen und einen aus düsteren Hauseingängen anknurrten. Das Kältegefühl wurde immer stärker, je mehr wir uns den Vampiren näherten.“

Mit zwei Handgranaten werden die beiden unschädlich gemacht und die Nachbarn beruhigt. Die Feuerwehr kommt unverzüglich, schließlich hat man über einen Gewährsmann alles vorbereitet.

War das Feuer erst mal gelöscht, würde Frank als Brandermittlungsbeamter den Schauplatz genauer untersuchen, einen plausiblen Grund für den Ausbruch des Feuers feststellen und alles beseitigen, was auf das Gegenteil hindeuten möchte. … Die Sache würde schließlich als einer der Hausbrände, die auch bei Tag immer wieder ausbrachen ad acta gelegt werden. … Und so, Ladies und Gentleman, verfahren wir hier im alten London mit Vampiren.

Und so, Ladies und Gentleman, wird glaubhaft, daß es im heutigen London immer noch Magie gibt und deshalb eine geheime Spezialabteilung von Scotland Yard einzig und allein mit der Aufklärung der Fälle betraut ist, die offenkundig mit Magie zu tun haben. Wobei diese Geheim-Abteilung gerade mal aus zwei Mann besteht: Dem jungen Police Constable Peter Grant und seinem Meister, Inspektor Nightingale, von dem z.B. keiner so genau weiß, wie alt er wirklich ist.

Aber Peter Grant ist clever und lernt schnell. So kann er erfolgreich im ersten Band „Die Flüsse von London“ einen ernsthaften Streit zwischen Mutter Themse und Vater Themse schlichten. Denn alle Londoner Fließgewässer haben nicht nur einen Namen, sie sind auch eine Person.

Der englische Drehbuchautor und Buchhändler Ben Aaronovitch kombiniert moderne Lebensumstände im heutigen London mit Elementen der Fantasy auf das Unterhaltsamste. So schreddert der Einsatz magischer Zaubersprüche regelmässig die Akkus modernster Handys und Laptops zu feinem grauen Staub. Schnelle „Schnitte“ in eine neue Szene sorgen für einen hohen Unterhaltungsfaktor, der noch gesteigert wird durch die fast schnoddrig zu nennende Art, Londoner Stadtviertel oder einfach die alltägliche Polizeiarbeit zu beschreiben.

Bei einer Mordermittlung nimmt man sich zuerst das Opfer vor, denn das ist am Anfang meist das Einzige, was man hat. Das Studium des Opfer nennt man Victimologie, weil sich alles viel schicker anhört, wenn man eine Ologie draus macht. Und damit man auch hübsch ordentlich an die Sache rangeht, hat die Polizei die unnützeste Eselsbrücke der Welt erfunden: die sechs W. Auch bekannt als Wer? Was? Wo? Wann? Warum? Wie? Wenn Sie das nächste Mal eine reale Mordermittlung im Fernsehen sehen und irgendwo eine Gruppe ernst blickender Ermittler intensiv irgendwas diskutiert, dann können Sie sicher sein, dass sie gerade versuchen, sich an die richtige Reihenfolge der verdammten Eselbrücke zu erinnern.

Die Übersetzerin Christine Blum hat sicherlich ihren Teil dazu beigetragen, daß solche Passagen auch im Deutschen wirken.

Auch im „Schwarzer Mond über Soho“ ereignen sich ungewöhnliche Dinge. Jazzmusiker sterben kurz nach einem Auftritt auf flotte und ungeklärte Weise – und das bei beinahe bester Gesundheit. Peter Grant, mittlerweile mit einigen durchaus brauchbaren magischen Fertigkeiten ausgestattet, stürzt sich in die Jazz-Club-Szene Sohos und nebenbei in eine sehr intensive Beziehung….
Gerne hätte er sich noch intensiver dieser attraktiven Yvonne oder zumindest ganz normalen polizeilichen Ermittlungstätigkeiten gewidmet….

…, wäre ich nicht zufällig auch der letzte vedammte Zauberlehrling Englands gewesen. Was bedeutete, ich musste meine Freizeit damit verbringen, die Theorie der Magie zu studieren, tote Sprachen zu büffeln und Bücher zu lesen wie „Abhandlungen über das Metapysische….“

So wird Zauberlehrling Grant erwachsen und erfahrener. Selbstredend gelingt es ihm, die magisch-nebulösen Fälle letztendlich aufzuklären.
Aaronovitch fesselt mit überraschenden Wendungen und mit augenzwinkernden Verweisen auf bekannte Fantasy-Literatur.

Nun müssen wir noch von Lesley reden, seiner Polizeischulkameradin, die zwar gleichzeitig mit ihm den Abschluß machte, aber viel viel bessere Noten bekam:

„Lesley war klein, blond und sehr attraktiv, selbst wenn sie eine Stichschutzweste trug. … Unsere Beziehung war rein beruflicher Natur, obwohl ich nicht selten eine gewisse Sehnsucht verspürte, ihr ein wenig an die Uniformwäsche zu gehen.“

Die clevere Kollegin im Hintergrund bügelt so manche Ermittlungs- und Wissenslücke aus und das Verhältnis bleibt sehr platonisch, vor allem, weil sie am Ende des ersten Bandes – aber das erzähle ich jetzt nicht. Jetzt muß selbst gelesen werden. Aber bitte: sicherheitshalber nicht als E-Book, denn sie wissen ja, bei soviel geballter Magie könnte der Akku vielleicht doch …

Text und Podcast stehen unter einer Creative Commons-Lizenz.
Quelle: PJ Klein/SchönerDenken

Ben Aaronovitch
Die Flüsse von London
dtv, München 2012
ISBN 978-3-423-21341-7
9,95 €

Ben Aaronovitch
Schwarzer Mond über Soho
dtv, München 2012
ISBN 978-3-423-21380-6
9,95 €

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