DENKEN/ORDNEN: Ordnung ist das halbe Leben, für manche das Ganze

Foto: Dave Pearson CC BY-NC-ND


Folge 754
PJ liest Georges Perecs DENKEN/ORDNEN
Länge: 10:02


Ein dem Ordnungswahn verfallener Pedant schreibt für Pedanten – so der erste Eindruck. Darüber hinaus sind dies Texte, die Georges Perec zwischen 1976 und 1982 in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte. Schnee von gestern – so könnte man denken und die Texte in die Rubrik „überholt“ ein-ordnen. Doch mitnichten. Schon das Begriffspaar „Denken/Ordnen“ macht dem Autor (und damit auch zugleich dem Leser) zu schaffen:

„Was bedeutet der Schrägstrich? Was fragt man mich eigentlich? Ob ich denke, bevor ich ordne? Ob ich ordne, bevor ich denke? Wie ich das ordne, was ich denke? Wie denke ich, wenn ich ordnen will?“

Er ist eben genau; und diese Genauigkeit eröffnet ihm neue Ordnungen, neue Denkweisen und damit auch dem Leser – wenn dieser die Geduld aufbringt, die akribischen Auflistungen Perecs zu durchforsten. So erwarten ihn direkt zu Beginn „Anmerkungen hinsichtlich der Gegenstände, die auf meinem Schreibtisch liegen“. Da schmunzelt man, stellt aber fest, daß man auch ganz gerne seinen eigenen Schreibtisch mal aufräumen möchte oder daß so viel darauf liegt, daß er (wie derjenige Perecs) durch das Gewicht der Gegenstände im Lot gehalten wird.

Da dürfen „Kurze Anmerkungen über die Kunst und die Art und Weise, seine Bücher zu ordnen“ nicht fehlen. Wobei diese „kurzen Anmerkungen“ immerhin 12 ordnungswahnsinnige Buchseiten umfassen. Nachdem Perec erläutert hat, wie schwierig es ist, eine Bibliothek auf eine angemessene Anzahl von Büchern zu beschränken, kommt er zu weiteren Aspekten. Einer davon ist der Raum, der die Bücher aufnimmt.

„Bücher sind nicht verstreut, sondern an einem Ort versammelt. So wie alle Marmeladentöpfe in einen Schrank für Marmelade gestellt werden, so werden auch alle Bücher an einen gleichen Ort oder an mehrere gleiche Orte gestellt. Man könnte die Bücher, die man zu behalten wünscht, natürlich auch in Schließkörben stapeln, sie in den Keller oder auf den Speicher oder in Wandschränke stellen, doch in der Regel wird ihre Sichtbarkeit vorgezogen.“

Klingt ziemlich trivial – aber gerade diese trivialen Dinge des Alltags reizen Perec, darüber nachzudenken und damit eröffnet er sich und dem Leser neue Blickwinkel. So droht jeder Bibliothek Unordnung, für den Autor ein Beispiel von Entropie, das er selbst experimentell nachgeprüft hat.

„Dieser Apologie der symphatischen Unordnung steht die schäbige Versuchung der individuellen Bürokratie im Wege: Jedes Ding an seinem Platz und jedem Platz sein Ding und umgekehrt; zwischen diesen beiden Spannungsfeldern, dem einen, das den Schlendrian begünstigt, die zum Anarchismus neigende Gutmütigkeit, dem anderen, das die Tugend der tabula rasa preist, die erfolgreiche Kälte des großen Ordnens, versucht man am Ende doch immer wieder Ordnung in seine Bücher zu bringen: Es ist zwar ein strapaziöses, deprimierendes Geschäft, das einem jedoch angenehme Überraschungen zu verschaffen vermag, wie etwa die, ein Buch wiederzufinden, das man vergessen hat, weil man es nicht mehr sah, und das man schließlich, bäuchlings auf dem Bett liegend, von neuem verschlingt und dabei alles, was man nicht am gleichen Tag tun muß, auf den nächsten Tag verschiebt.“

Wer mehr als einige Dutzend Bücher besitzt, wird nun ausrufen: „Genau, so ist es mir auch schon mehrmals ergangen!“ Und er folgt ihm weiter in die Bibliothekskategorien; als da sind

  • Arten und Weisen, die Bücher zu ordnen
  • leicht einzuordnende Bücher
  • Bücher, die nicht allzu schwer einzuordnen sind
  • etc. etc.

Ein weiteres Kapitel listet „81 Kochkarten für Anfänger“ auf. Es handelt sich hierbei um Variationen von Seezunge, Kaninchen und Kalbsbries. Eine Aufstellung, die wohl weniger Interessenten finden dürfte, vor allem, da Kalbsbries nach dem BSE-Skandal kaum noch verkauft wird, doch angesichts des starken kulinarischen Interesses hierzulande nicht unerwähnt bleiben soll.

An die Bibliotheksthematik schließt sich sinnvollerweise eine Abhandlung über das Lesen an. Es sei nur angedeutet, daß Perec auch hier genau hinschaut: Der Körper beim Lesen, die Augen, die Lippen, Hände, Haltungen, Orte, bis zum gesellschaftlichen Raum in dem gelesen wird. Nun geht es konsequenterweise von den Büchern, den Bibliotheken und dem Lesen zu den Brillen. Ein Thema, das er als Unbebrillter, zwar außerhalb seiner Zuständigkeit ansiedelt, dem er sich dennoch über 16 Seiten hinweg widmet. So wendet er bei seiner Klassifizierung von Brillen drei Kriterien an: Anzahl der Gläser, Art der Gläser, Fehlen oder Vorhandensein von Bügeln. Er denkt weiterhin über das Leben mit einer Brille nach:

„Es gäbe viel zu sagen, über die Art und Weise, wie die Leute mit ihrer Brille leben, wie sie diesen Mangel, diese Unschärfe, die sie eines Tages gezwungen hat, die Fehler und Schwächen ihrer Sehkraft durch diese kleine bewegliche Prothese zu ersetzen, in Gebärden, in Gewohnheiten, in Regeln verwandeln. Eines Tages standen sie mit einer Brille da, und eine ganze Reihe von Gebärden sind ihnen vertraut geworden, haben nach und nach zu ihrem Alltagsleben gehört, und charakterisieren sie ebenso deutlich wie ihre Art zu sprechen, ihre Serviette zusammen zu falten, die Zeitung zu lesen.“

Diese allgemeinen Betrachtungen schließt Perec mit einer persönlichen Schlußfolgerung:

„Es gibt eine gewisse Anzahl von Dingen, von denen ich weiß, daß ich sie in Zukunft sicherlich nicht mehr tun werde … Hingegen ist ziemlich sicher, daß ich eines Tages, wie allem Anschein nach ein Drittel aller Franzosen, eine Brille tragen werde. Mein Ziliarmuskel, der die Krümmungsveränderung der Augenlinse steuert, wird nach und nach seine Elastizität verlieren. … Es heißt, daß dieser Fall bei allen Erwachsenen ab 45 Jahren eintritt und ich bin 44einhalb Jahre alt…“

Neben persönlicher Betroffenheit, die jedoch durchaus auf den Leser übergreifen kann, bestechen seine fast lapidaren Bemerkungen zu grundlegenden Themen:

„Utopien: Alle Utopien sind deprimierend, weil sie dem Zufall, dem „Anderssein“ keinen Platz lassen. Alles ist geordnet worden, und es herrscht Ordnung. Hinter jeder Utopie steht immer eine große taxonomische Absicht: ein Platz für jedes Ding und jedes Ding an seinem Platz.“

Wie in der Bibliothek … oder beim Alphabet, das er als willkürliche jedoch allgemein akzeptierte Buchstaben-Ordnung entlarvt. Gepaart mit der Erkenntnis, daß zahlreiche Gesellschaften/Firmen Namen suchen, deren Abkürzungen möglichst viele „AAA“ enthalten, um in Telefonbüchern unter den ersten zu stehen. Bei Schülern sieht das anders aus:

„Hingegen liegt es für einen Gymnasialschüler ganz in seinem Interesse, einen Namen zu haben, dessen Anfangsbuchstabe sich in der Mitte des Alphabets befindet: Damit hat er etwas mehr Glück, nicht befragt zu werden.“

Tragisch, daß Perec am Ende eingestehen muß, er habe selbst große Schwierigekeiten, vernünftige und griffige Kriterien für seine Ordnungssysteme zu entwickeln. Mit wirklich seltsamen Kategorien:

„…zum Beispiel eine Sammelmappe mit den verschiedensten Papieren, auf der steht EINZUORDNEN; oder eine Schublade mit dem Etikett DRINGEND 1, die nichts enthält (in der Schublade DRINGEND 2 sind alte Fotos, in der Schublade DRINGEND 3 neue Hefte).
Kurzum ich sehe, wie ich zurecht komme.“

So bleiben schließlich – nachdem Perec den Leser en passant von der Sinnlosigkeit und dem gleichzeitigen Genuss unterschiedlichster Ordnungssysteme überzeugt hat – die Freuden der Aufzählung. Man zählt auf, was es alles gibt, wohl wissend, daß man nicht alles erfassen kann. Aber man hat es zumindest versucht. Wer dabei seine Objekte genauer unter die Lupe genommen hat, vielleicht sogar akribisch oder gar haarspalterisch, dann hat er sogar was davon. Wenn nicht sei er mit der bekannten Frage getröstet: Wenn Ordnung das halbe Leben ist, woraus besteht dann die andere Hälfte?

Georges Perec
Denken/Ordnen
176 Seiten, diaphanes broschur, 2014
ISBN: 978-3037347409

Text und Podcast stehen unter der Creative Commons-Lizenz BY-NC-ND 4.0
Quelle: PJ Klein/SchönerDenken (Direkter Download der Episode über rechte Maustaste)
Betragsbild von Dave Pearson CC BY-NC-ND 4.0

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