Tausendundein Film – Godard ‚huit zéro (3)

Tausendundein Film. Götz bringt uns besondere Filme nah – tausendundeinmal. Diesmal präsentiert er uns Godard – heute den letzten von drei Teilen.

Godards Kino ist immer ein Kino der Offenheit, des frischen Windes, aus seinem Unbehagen, seinem Zweifel, seiner Fremdheit entstehen diese inhaltlich verwirrenden, aber formal immer harmonischen Filme. Er gab der formlosen Gegenwart einen Stil, wie er das schon in einem frühen Aufsatz 1952 gefordert hatte. Aus dem Uneigentlichen, Identitätslosen, das die Filme darstellen, führen sie zum Eigentlichen und zur Identität. Im Übrigen macht es keinen Sinn Godards Werk zu analysieren, weil er uns in der Analyse immer schon voraus ist. Die moderne Welt zerfällt, doch Godard vermag sie noch ohne Lüge zusammenzusetzen. Die Kultur ist eine Truhe voller Spielzeug für Godard, doch wie ein Kind liebt er die Spielsachen. Es ist ihm heidenernst mit ihnen.

Warum nicht in neun Minuten durch den ganzen Louvre rennen, wenn man sich zugleich mit einem Buch über Velazquez in die Badewanne legt und andächtig daraus zitiert. Warum nicht Shakespeare dekonstruieren, wenn man die griechische Antike zu beschwören vermag wie kein anderer. Erst macht Euch locker! sagt Godard und dann nutzt Euren eignen Kopf. Das Gespräch zwischen Anna Karina und dem Schriftsteller in „Vivre sa vie“ oder zwischen Anne Wiazemsky und dem Philosophen in „La Chinoise“: welche Nähe und Intimität in diesen Gesprächen, wie viel Liebe des Betrachters zum Menschen. Man muss aber nicht zuhören, man kann auch nur Anne Wiazemskys Hand betrachten, die mit dem Griff des Zugfensters minutenlang spielt und den Sprachfluss erotisch auflädt, oder die Landstriche, die im Hintergrund vorüberziehen. Seit den Hotelzimmer-Szenen von Belmondo und Seberg in „Außer Atem“ ist Dialog zwischen Mann und Frau bei Godard immer ein Liebesspiel.

Godard liebt die von ihm entworfenen Figuren, so wie Hitchcock, Ford und Rossellini ihre Charaktere liebten. Doch im Sinne Brechts fordert Godard den Zuschauer zum Mitdenken und Kombinieren auf. Entgegen landläufiger Meinung sind seine Filme selten sperrig, sondern fast immer wie ein Strom, in den man eintauchen kann, man kann zuhören oder schauen oder beides.

Man könnte Analysen schreiben: Godard der Maler, Godard der Videokünstler, Godard der Schriftsteller, Godard der Musiker, Godard der Philosoph, Godard der Soziologe, Godard der Dokumentarfilmer und Godard der Filmhistoriker und manchmal tritt er auch als Schauspieler in seinen Filmen auf. Aber solche Elogen interessieren ihn nicht, er fände sie albern. Er hat sich immer einen Grad schöpferischer Rohheit, Ungewissheit und Unverfrorenheit bewahrt.

In seinen Filmen lernen wir sehen, aufmerken, schauen. Wir achten auf die Kleider der Schauspielerinnen und Schauspieler, sie sagen uns etwas, wir achten auf die Gesten, die Geräusche, das Licht, das Wetter. Wir lernen, wie schwer und wie leicht das Leben ist. Wir schauen dem Leben selbst zu. Wir lernen auch, dass es in der Kunst alles gleichzeitig und alles Avantgarde ist, dass uns Velazquez und Novalis ebenso etwas angehen wie Banksy und Foster Wallace. Der Geist des Punk wehte schon in Rembrandts Kopf. Godard befreit die Klassiker vom Bildungsbürgerbalast und lässt sie frisch und neu werden. Er aktualisiert die Mythen, auch die der Bibel: in „Je vous salue Marie“ nimmt er die Jungfrauengeburt beim Wort und lässt ein Mädchen unserer Tage die „unbefleckte Empfängnis“ erfahren; in „Passion“ ringt ein Regisseur wie Jakob mit einem Engel. Vollkommen falsch wäre es zu denken, er zöge diese biblischen Legenden ins Lächerliche. Godard geht voran und nimmt die Kultur der Vergangenheit mit. Er ist kein Ikonoklast, vielmehr bewahrt er die alten Bilder, indem er sie neu mit Leben und Möglichkeitssinn erfüllt.

Nicht verstehen wollen, schauen und sich einlassen und man wird etwas und meist ist es sehr, sehr viel aus seinen Filmen mitnehmen. Hören wir hinein in ein Interview mit dem fast Achtzigjährigen im Züricher „Tages Anzeiger“:

Frage: „Ihr neuer Film trägt allerdings den ebenso politischen wie merkwürdigen Titel „Film Socialisme“. Können Sie sagen, was es damit auf sich hat?“

“Ein befreundeter Schriftsteller hat mir geraten, ihn so zu nennen. Würde er nämlich nur „Socialisme“ heißen, wie einmal vorgesehen, dann würden die Leute sofort daraus schließen: Aha, da geht es um die Sozialisten, das ist Parteipolitik, das muss ein Film gegen den Kapitalismus sein.  Mir geht es aber um andere, archaische Dinge. Um Phantome. Um kulturelle Totems.“

Frage: „Quentin Tarantino hat seine Produktionsfirma auf den Namen Band Apart getauft, nach Ihrem Film „Bande à part“. Ist das eine Ehre für Sie, oder ist es Ihnen gleichgültig?“

Godard: „Mich stört höchstens, dass das ein sehr schlechter Film von mir ist. Und es erstaunt mich überhaupt nicht, dass sich jemand wie Tarantino ausgerechnet diesen Film ausgesucht hat. …“

Frage: „Die Masse an Filmen hat zugenommen. Sehen Sie da keine Chance?“

„Was heißt Filme? Die Sintflut im Fernsehen und im Internet? Das Kino, wie wir es seit den Gebrüdern Lumière kannten, ist verschwunden. Seit den 60er- oder 70er-Jahren lebt es noch weiter in einzelnen Momenten, die dann an den Festivals gefeiert werden. Aber das Kino als Produktionsmittel gibt es nicht mehr. Es ist heute wie eine ägyptische Mumie.“

Ein Film ist vergänglich, er dauert nur für einen Augenblick, auch dies ist ein Gedanke von Godard. Ein Film muss aus dem Ungreifbaren kommen, ein Geschenk sein. Früher sah man Filme, war begeistert, träumte ihnen nach und vor, hatte aber dann manchmal jahrelang nicht mehr die Gelegenheit sie wiederzusehen. Dadurch wuchs aber die Aura des Films noch.

Die Verfügbarkeit im Internet, auf DVD zerstört diese Aura – der verfügbare Film wird langweilig, braucht nicht mehr unbedingt gesehen zu werden. Doch Godard hat in seinem Atelier in Rolle am Genfer See wahrscheinlich eine der größten privaten Filmsammlungen der Welt. Godard hütet das Kino wie der einsame Astronaut in dem Film „Lautlos im Weltraum“ die Pflanzen. Er ist der Gärtner des Kinos, der alle Blumen und Pflanzen hegt und pflegt. Möge ich oder wer auch immer in zehn Jahren einen Essay schreiben können: Godard Neuf Zéro.

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