Lieber Li-Tai-Pe

Lieber Li-Tai-Pe,
Nichts Heiteres will mir im Zusammenhang mit diesen Olympischen Spielen in den Sinn kommen. Ich stelle mir vor, dass Sie in einem sagenhaften, ursprünglichen China gelebt haben, in dem Traditionen und Lebensformen über Jahrhunderte hin Bestand hatten, das Gegenteil also von den dramatischen Entwicklungen, die heute in Ihrem Land sich ereignen. Das magische alte China: Vielleicht war es die höchste Seinsstufe, die die Menschheit auf der Erde je erklommen hat.

Wahrscheinlich habe ich da jedoch eine zu idealistische Vorstellung von jenen Zeiten, in denen Sie gelebt haben, im achten Jahrhundert nach Christus, wie wir heute sagen. Das zeigt mir schon Ihr Gedicht „Krieg in der Wüste Gobi“. Ich kenne es nur in einer Übersetzung des expressionistischen Dichters Klabund, der von 1890 bis 1928 gelebt hat. Er war Mitglied des 1919 gegründeten Berliner Kabaretts „Schall und Rauch“.

Ob Ihnen Klabunds Nachdichtungen wohl gefallen hätten? Mag sein, dass sie sich recht weit vom Original entfernen. Er hat auch einige Ihrer Gedichte über den Frühling oder über Mädchen, in die Sie verliebt waren, übersetzt, doch sie alle haben keinen so tiefen Eindruck bei mir hinterlassen wie dieses Gedicht über den Krieg, eines der besten, das ich kenne. Möglicherweise bezieht die Übersetzung ihre Kraft daraus, das Klabund der Erste Weltkrieg vor Augen stand, ein schrecklicher Krieg, der vier Jahre dauerte, aber für Jahrzehnte Unheil nach sich zog, Unheil, das bis heute nicht ausgestanden ist.

Klabund berichtet, Sie seien ein Vagabund gewesen, der von Herrschern an deren Höfe berufen wurde. Und manches Mal hätten Sie nach einem Zechgelage dem Kaiser im Morgengrauen Ihre Verse in den Pinsel diktiert; das behauptet jedenfalls Klabund, der ja auch so ein loser Vogel war. Aber Klabund erzählt noch tollere Sachen von Ihnen: Der Kaiser habe Ihnen eine Rente ausgesetzt und Ihnen zum Zeichen seiner höchsten Gnade ein Prunkgewand zum Geschenk gemacht – damals die höchste Ehrung für einen Untertanen.

Dieses Kleid hätten Sie nun, behauptet Klabund, durch alle Gossen der Provinz geschleift. Und wenn Sie betrunken gewesen seien, hätten Sie sich von den Bauern als Kaiser huldigen lassen. Oder sie hätten, in jenem Prachtkleid, rebellische Reden vor dem herbeigelaufenen Volk gehalten. Sie sollen denn auch Klabund zufolge im Rausch gestorben sein, indem Sie bei einer nächtlichen Bootsfahrt aus dem Kahn gestürzt und ertrunken seien. Die Legende besagt, dass sie von einem Delphin gerettet und aufs Meer hinaus und in die Weite der Unsterblichkeit entführt wurden. Das mag ich gerne glauben (es soll ja ein Brief in die chinesische Gegenwart sein).

Wie schauen Sie wohl auf dieses gegenwärtige China und die Olympischen Spiele? Ich jedenfalls kann hinter dem medialen Vorhang der gewiss spannenden Wettkämpfe – auch ich werde einiges am Fernsehen (ein Gerät, das Ihnen unbekannt war) verfolgen – nur die vielfältigen Kriege des 21. Jahrhunderts und die Strategien zu ihrer Vermeidung erkennen: Kriege gegen die Natur, gegen die Kindheit, gegen den Körper, gegen die Freiheit, gegen die Luft, das Wasser, Kriege um wirtschaftliche Macht, Kriege um Geld also und die Strategien des Konsums und des Sports, des Handels und der technologischen Transfers (meine Güte, was für eine Sprache, werden Sie denken), die Kriege vermeiden sollen, aber auch eine Art Krieg sind. Ihr Gedicht, das ich nun zitieren werde – so also hat man Sie zu Anfang des 20. Jahrhunderts übersetzt – erzählt auch vom Krieg.

Ich bitte Sie nochmals um Verzeihung für meinen düsteren Blick auf Ihr Land und den Zustand der Welt überhaupt. Andererseits bin ich mir recht gewiss, dass Sie ihn geteilt hätten und das Schicksal vieler heutiger chinesischer Autoren, zu deren Lebenserfahrungen das Gefängnis und das Exil gehören. Vielleicht werde ich ja während dieser Wochen der Olympischen Spiele eines Besseren belehrt, ich hoffe es. Während der Eröffnungsfeier war ich ja schon nahe daran, meine Widerstände aufzugeben.

Als ich die kindlich begeisterten, staunenden Gesichter vieler Athletinnen und Athleten sah, wehte auch mir etwas Vorfreude, etwas olympischer Atem zu. Doch während noch im Stadion eine riesige Friedenstaube mit Licht- und Farbeffekten in die Mitte des weiten Ovals gezaubert wurde, da begann an einem anderen Ort – im Kaukasus – ein neuer, grausamer Krieg. Und am folgenden Tag beherrschten die beiden Ereignisse – der Beginn der Olympischen Spiele und der Beginn des Krieges in Georgien – gleichberechtigt die Schlagzeilen der Titelblätter aller Zeitungen. Und hier nun Ihr Gedicht:

Krieg in der Wüste Gobi
Am Himmel die Plejaden tropfen Blut.
Blut sickert in der Wüste Gobi Sand.
Mit seiner Freundin nicht der Feldherr mehr auf weicher Matte ruht.
Sein Sichelwagen ist mit Schimmeln hell bespannt.

Von Feuer flammen alle Länder.
Eilboten jagen durch die Nacht.
In Fahnen hüllt der Mordrausch sich wie in Gewänder.
Der gelbe Sandsturm wirbelt in die Schlacht.

Fürst Lou-lans Haupt rollt unterm Schwerte.
Der Khane viele traf der Pfeil in Aug und Stirn.
Der Herbstreif fällt in der Soldaten Bärte.
Schakale beißen sich um eines Menschen Hirn.

Gleich einem Silberschwarm von Vögeln schwingend,
erreicht der Sieg den Kaiser in Stafetten.
Soldaten ziehen in die Heimat singend.
Und Frauen knien am Weg wie Statuetten.

Einen hochachtungsvollen Gruß quer durch die Jahrhunderte sendet Ihnen,
Ihr Götz Kohlmann.

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