Meine Portion Nippon (Heimlieferung)

biginjapanFür BIG IN JAPAN schaut Hendrik nach Japan hinüber und nimmt dafür eine Abkürzung durch sein Bücherregal, denn SchönerDenken berichtet ab dem 14. April vom Filmfestival “Nippon Connection” und widmet auch sonst den ganzen April der japanischen Kultur:

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I.

Ich kenne nur ungefähr drei Worte dieser Sprache, die keine Markennamen sind, und spreche diese vermutlich komplett falsch aus. Ich war auch noch nie da. Sushi mag ich nicht besonders und hatte auch noch nie einen Mitsubishi. Nicht einmal mein Radiowecker entspricht dem Klischee, von dort zu stammen, denn es handelt sich um ein U.S.-Modell. Musik? Fast Fehlanzeige, nur den Klassiker „Music for Zen-Meditation“ und eine weitere CD mit Koto-Musik besitze ich (Deep Purples „Made in Japan“ zählt da ja wohl nicht ganz). Filme? Auch nur einige wenige, und ich kann mir bei ihnen nie genau merken, welche davon jetzt chinesisch, koreanisch oder japanisch sind. Unser Kater heißt Neko (jap. ‚Katze‘), aber mein Einfall war das nicht. Immerhin: ein paar Bücher aus und über Japan besitze ich, und einige davon zählen sogar zu meinen ausgesprochenen Lieblingen.

II.

Kamikochi

Da ist zunächst einer meiner Lieblings-Fotobildbände, ein Buch über die Naturschönheiten der japanischen Alpen: Aufnahmen von einem klaren Bergsee, umgeben von unberührt winterlichem Weiß; von einem Weg, der sich zwischen sonnendurchfluteten Laubbäumen entlangschlängelt; von einem winzigen Beerenpflänzchen, eingeschmiegt in eine Rille im verrottenden Holz eines umgestürzten Baumriesen.

Ein schlechtes Foto von einem guten Foto

Ein schlechtes Foto von einem guten Foto

Mein liebstes Bild daraus ist die Aufnahme einer Wasserströmung, die sich zwischen einigen kleinen Steinen, die aus dem flachen Bachbett ragen, gewunden hindurcharbeitet, und die von der Natur selbst durch die sich am Ufer sammelnden oder von der kleinen Strömung getragenen Lärchennadeln malerisch markiert wird.

Diesen Bildband habe ich im Wechsel mit einigen seiner Kollegen an dieser oder jener Stelle geöffnet auf einem Buchständer in meinem Wohnzimmer ausgelegt, um im Vorbeigehen immer wieder mal die Gelegenheit zu einem kurzen Augenbad in den frischen Farben zu nehmen.

Ist das typisch Japan? Die Motive selbst, obwohl beeindruckend, sind es nur bedingt, könnten sich zum nicht geringen Teil an vielen Orten der Welt befunden haben. Aber vielleicht ist es der Blick des Fotografen Shinzo Maeda, der die Fähigkeit besitzt, in oft auf den ersten Blick belanglos-hübschen Szenerien etwas Besonderes zu finden, durch die Art seiner Fotografie einzufangen und zu betonen: die Andeutung einer großen Weite in einem kleinen Flecken Erde, einer tänzerisch geschwungenen Linie im Chaos eines Laubwaldes, einer lyrischen Verdichtung in der trivialen Textur der bloßen Umgebungswahrnehmung. Und das scheint mir sehr in Richtung eines Zen-Gartens zu gehen: die kleine Oase der Zeitlosigkeit zwischen zwei weltlichen Momenten, die kühl erdende Wahrnehmung des Ist zwischen all dem Wollen und Müssen, Haben und Werden.

III.

Hokuetsu-seppu

Auch das zweite meiner Lieblingsbücher aus und über Japan beschäftigt sich mit dem japanischen Hochgebirge. Es ist Bokushi Suzukis längst zum Klassiker der japanischen Literatur gewordene Ethnographie „Leben unter dem Schnee“, von ihrem Autor in den Jahren 1835-1842 in sorgsam kalligraphierten und illustrierten Ausgaben herausgegeben und von der Übersetzerin und Japankennerin Rose Lesser wunderbar ins Deutsche empfunden.

Hierin findet sich das Japan jenseits der roten Sonne, die sich in der Flagge des Landes spiegelt, das Japan des entbehrungsreichen, harten Alltagslebens hoch oben in den Bergdörfern in den langen, schneereichen und dunklen Wintermonaten, das unstädtische Japan weit außerhalb der großen Metropolen und lange vor der Industrialisierung und Beeinflussung durch den Okzident.

Illustrationen zum Kapital über den Lachsfang

Illustrationen zum Kapital über den Lachsfang

Bokushi selbst war ein gebildeter und dichterisch begabter Mann, den auch sein bürgerlicher Beruf als Pfandleiher nicht davon abhielt, reisend, schreibend und malend seiner Zeit und seiner Kultur ein stilles und doch lebendiges Denkmal zu setzen. Wenn er im Plauderton davon berichtet, wie er die Dutzende von Metern langen Eiszapfen am Oikake-Fels bestaunt, wie im tiefen Januarschnee Etchigos die Bergbauern ihre Hütten durch Tunnel unter dem die Dächer überragenden Schnee miteinander verbinden, wie sie ihren Lachs zubereiten und ihre Schneeschuhe bauen, dann ist das eine zärtliche Zeitreise in eine völlig andere Welt.

Diese darf man nicht romantisieren, dennoch besitzt sie zweifellos die Magie des Unmittelbaren: im Unterschied zu unserem von Abstraktionen, Fiktionen und Entfremdungen, medialen Mittlern und vorgekauten Wahrnehmungen durchdrungenen Alltag scheint ihr eine existenzielle Einfachheit zu eigen, ein direkt mit dem Überleben in der Natur verbundenes Leben, bei dem es mir schwerfällt, mich nicht an manchen allzu termingehetzten und bürokratieregierten Tagen dorthin denken zu wollen, um Hand an eine Gegenwärtigkeit zu legen, die sich gerade durch ihre Ferne jeder Profanisierung entzieht.

IV.

Ehon-mushi-erabi

Dieses ‚Bilderbuch ausgewählter Insekten‘, bekannt unter dem Namen „Im Garten ein Summen“, ist Bildband und poetische Anthologie zugleich. Der Holzschnittkünstler Kitagawa Utamaro verfertigte 1788 fünfzehn Farbholzschnitte, deren jeder zwei Insektenarten (Insekten, ‚mushi‘, gemäß der damaligen japanischen Begrifflichkeit, was u.a. auch Eidechsen und Regenwürmer umfasst) auf einem Bild versammelt: Grashüpfer und Spinne, Stabheuschrecke und Bremse, Hundertfüßler und Schnecke. Im Rahmen eines Poesiewettbewerbs ergänzten dreißig der seinerzeit namhaftesten Dichter des Landes diese Darstellungen um kleine, meist scherzhafte und vieldeutige Gedichte, die dann in Form von Kalligraphien in die Bilder eingefügt wurden.

Am schönsten in der Frühlingssonne zu betrachten: Im Garten ein Summen

Am schönsten in der Frühlingssonne zu betrachten: Im Garten ein Summen

Die zeitliche und sprachliche Kluft zwischen dem Werk selbst und mir als seinem Leser bringt es mit sich, dass ich es unmöglich so wahrzunehmen vermag, wie ein zeitgenössischer Leser das konnte: das Bild betrachtend, das jeweilige Gedicht als Bestandteil des Bildes sehend, die Deutungsebenen inkl. der erotischen Sprachspiele und zeitkritischen Andeutungen parallel zur vordergründig naturbezogenen Darstellung begreifend. Aber seltsamerweise zeitigt gerade dieses Problem hier eine reizvolle intensivierte Wahrnehmung des Werkes. Denn ich muss, wenn ich all diesen Ebenen nachspüren möchte, viel blättern: von den Farbseiten mit den kolorierten Darstellungen hin zu den Textseiten mit dem in unsere Schrift übertragenen japanischen Text, dem wiederum die deutschsprachige Nachdichtung beigesellt ist, die ihrerseits wieder durch Anmerkungen ergänzt wird.

Die Vor- und Nachbemerkungen zur Entstehungszeit und -geschichte des Werkes vervollständigen dieses Puzzle und machen überdeutlich, dass ich hier kein Original in der Hand halte, sondern gewissermaßen ein Metaartefakt: ein Produkt der Buchkunst über ein Produkt der Kunst, zu dem mir der unmittelbare Zugang verwehrt ist, weil Raum, Zeit und Kultur es unabänderbar von mir trennen. Und da ich mir aufgrund des damit diesem Buchkonzept schon mitgegebenen Werkzeugcharakters dessen bewusst bin, steht der Gedanke meinem Genuss nicht mehr unsichtbar im Wege.

Ich kann mich ganz dem Grundgedanken hingeben, dem in der Tradition der japanischen Naturpoesie auch dieses Werk folgt:

„Hört man den Gesang der Nachtigall in den Blüten und die Stimmen der Frösche im Wasser, gibt es kein lebendiges Wesen in dieser Welt, das nicht dichten muss!“

Obwohl dieser Satz laut dem Nachwort des ‚Mushi‘-Buches bereits aus dem Jahre 905 CE stammt, fügt er sich perfekt zu dem, was sich im Vorwort des ‚Kamikochi‘-Bildbandes über dessen Fotografen geschrieben findet:

„Sich eine Sache anzusehen kann ein sehr einfacher Vorgang sein, was man aber wahrnimmt, kann unendliche Tiefe besitzen.“

V.

Shinzo Maeda dichtet durch seine Bilder Japans Natur, Bokushi Suzuki dichtete erzählend das Volk, das gemeinsam mit ihm selbst inmitten dieser Natur lebte. Poeten und Maler haben schon immer den Tiefen nachgespürt, in dem sie die Dinge um sich herum stets neu und zum ersten Mal wahrgenommen haben.

Diesen Wegen folgend eine so weit entfernte völlig andersartige Kultur zu betrachten, ist eine schöne Art zu reisen. Ob die Vorstellung, die auf diesem Wege in mir von jenem Land und jener Kultur entsteht, mit dem, was da einige tausend Kilometer östlich existiert, so sehr viel zu tun hat, kann ich nicht wirklich beurteilen. Aber um mich bei der Durchwanderung dieser drei Bücher daran zu stören, dazu bin ich im Augenblick dieser Buchwahrnehmung zu sehr Leser und zu wenig Ethnologe, bin zu gern der Staunende, der Atmende, der Durchstreifende. Und das Japan meiner drei Lieblingsbücher ist einfach einer der schönsten inneren Orte dafür.

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