Irène Némirovskys unvollendetes Meisterwerk

Prof. Pu empfiehlt „Suite française“ von Irène Némirovsky

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Ein französisches „Krieg und Frieden“ wollte Irène Némirovsky schreiben, ein Buch von tausend Seiten, eingeteilt in fünf Teile; zum Vorbild nahm sie sich Beethovens Fünfte Symphonie. „Suite française“ beginnt im Sommer 1940 mit der Flucht der Franzosen aus Paris vor den nahenden deutschen Truppen.

Detailgenau beschreibt sie, wie die reiche Bankiersfamilie Péricand versucht, mit Kindern und Großvater im Rollstuhl, vor allem aber mit ihrem halben Hausstand, die Stadt zu verlassen. Ebenso wie der arrogante Schriftsteller Gabriel Corte zusammen mit seiner Geliebten, die ihn im Laufe der doch sehr unbequemen „Reise“ im Stich lassen wird. Sie begleitet auch einen Abbé, der sich mit Waisenkindern auf den Weg aus der Stadt hinaus macht und ein bescheidenes Angestellten-Ehepaar, deren Sorge mehr ihrem Sohn Jean-Marie im Kriege gilt denn ihrem eigenen Leben.

Sehr fein und eindringlich beschreibt sie die Verhaltensveränderungen der Menschen auf ihrer Flucht vor den Deutschen. Bei einigen öffnen sich Abgründe, die sie vor sich selbst erschrecken lassen. Doch sie beschreibt auch Situationen voll Menschlichkeit und tiefer Zuneigung. Wie bei Jean-Marie, der bei Bauern Unterschlupf gefunden hat und dort bis Kriegsende bleiben darf.

Hätte man Jean-Marie gesagt, er werde sich einmal fern von seinem Regiment in einem gottverlassenen Dorf befinden, ohne Geld, ohne jede Möglichkeit, sich mit seinen Eltern in Verbindung zu setzen, ohne zu wissen, ob sie gesund in Paris waren oder wie so viele andere in einem Granattrichter am Rand einer Landstraße begraben lagen, und hätte man ihm vor allem gesagt, er werde, obwohl Frankreich besiegt sei, weiterleben und sogar glückliche Augenblicke verbringen, dann hätte er es nicht geglaubt. Und doch war es so.

Der erste Teil der „Suite française“ endet mit dem sehr kalten Winter 1940/41. „Dolce“, der zweite Teil, beschreibt einen kleinen Ort unter deutscher Besatzung. Jeder Haushalt muss einen Offizier aufnehmen und so kommt Bruno in das Haus der Damen Angellier. Es entsteht eine zarte Zuneigung zwischen der jungen Frau, deren Mann sich in deutscher Gefangenschaft befindet, und dem einquartierten Soldaten. Ihre Schwiegermutter, ihr nicht gerade wohlgesonnen, beäugt die Sache mit unverhohlenem Hass.

„Madame, Ihre Schwiegertochter hat mir freundlicherweise gestattet, ihr einige Augenblicke Gesellschaft zu leisten.“
Die alte Frau, sehr bleich, neigte den Kopf.
„Sie sind der Herr.“
„Und da man mir aus Paris ein Paket neuer Bücher geschickt hatte, habe ich mir erlaubt …“
„Sie sind hier der Herr“, wiederholte Madame Angellier.
Sie wandte sich ab und ging hinaus. Lucile hörte sie zu der Köchin sagen:
„Jeanne, ich werde mein Zimmer nicht mehr verlassen. Bringen Sie mir mein Essen hinauf.“
„Heute, Madame?“
„Heute, morgen und solange diese Herrschaften hier sein werden.“
Als sie sich entfernt hatte und ihre Schritte in den Tiefen des Hauses nicht mehr zu hören waren, sagte der Deutsche mit leiser Stimme: „Es wird das Paradies sein.“

Es bleibt ein platonisches Paradies, am Ende ziehen die deutschen Besatzer weiter.

Dieser andere Blick auf die unrühmliche deutsche Vergangenheit hat meinen Horizont durchaus erweitert. Irène Némirovsky, Jüdin und russische Emigrantin, konnte ihr wunderbares Werk nicht vollenden. Sie wurde 1942 in Issy-L’Èveque verhaftet. Trotz größter Bemühungen ihres Mannes, sie war damals schon eine berühmte Schriftstellerin, wurde sie in Auschwitz umgebracht.

Die Geschichte des Wiederauffindens der „Suite française“ ist mindestens genauso spannend wie der unvollendete Roman: Erst im Jahr 2004 wagten sich ihre Töchter an die Manuskripte ihrer Mutter. Der Roman, dieses hellsichtige Zeitzeugnis, präzise wie eine scharfgestochene Fotografie, wurde posthum ein großer Erfolg. Nur eine sehr kleine Wiedergutmachung …

Irène Némirovsky
Suite française
btb € 10.-
978-3-442-73963-9

Die Biografie Némirovskys sei allen, die sich für mehr interessieren, wärmstens ans Herz gelegt.

Irène Némirovsky
Biografie von Oliver Phillipponat und Patrick Lienhardt
Knaus € 29,95
978-3-8135-0341-8

Kullturzeit-Beitrag:

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