„Im persönlichen Verkehr wirkte er unscheinbar.“
Mit dieser nicht gerade prickelnden Feststellung beginnt die neue Thomas-Mann-Biographie von Hermann Kurzke. Doch der Mainzer Germanist, einer der besten Thomas-Mann-Kenner weltweit, holt schon wenige Zeilen weiter zu einem sprachlichen Feuerwerk aus: Mann habe auf seine Mitmenschen temperamentlos, wenig spontan und schwer zugänglich gewirkt und viele hätten ihn wegen seiner „dauernden Selbstkontrolle“ als „personifizierte Bügelfalte oder als sitzfleischgesteuerten Literaturbeamten“ verachtet. Unter seinem „Panzer der gepflegten Erscheinung“ sei der Nobelpreisträger aber ein „scheues Reh“ gewesen.
Bumms! Der sitzt! Das hätte der Beschriebene selbst auch kaum besser hinbekommen. Der Gegensatz ist aufgebaut: Hier das äußere Leben, bürgerlich, wohl geordnet und alles andere als spontan; dort die Dichtung, in der all das erlaubt ist, was in der Wirklichkeit an die Leine genommen werden musste. Kurzke verweist auf Manns Homosexualität als Mitte des Strudels“, bevor er seinen Prolog mit dem Programm für die kommenden 220 Seiten beschließt:
„Nur in seinen Dichtungen war er frei.“
Manns Dichtungen, sie bilden nun den Hintergrund für die Betrachtungen eines Mann-Erwählten. Beginnend bei „Tonio Kröger“ bis zu den „Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull“ arbeitet sich Kurzke chronologisch durch Leben und Werk des Autors. Dabei bietet Kurzke wie schon in seiner großen Biographie „Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk“ von 1999 keine zusammenhängendes Bild, sondern eine Vielzahl kleiner Mosaiksteinchen, die dem Leser aber umso tiefere Einblicke bieten. Und die zudem, ob der sprachlichen Kraft und der exzellenten Pointierung des Autors, echtes Lesevergnügen sind – nicht nur für treue Thomas-Mann-Fans.
Die Überschriften der 100 Kapitel bestehen – abgesehen von den Buchtiteln und der Aufzählung von Personen – meist aus nur einem Wort: „Mythos“ und „Goethe“ sind darunter, “Psychoanalyse“ und „Leitmotiv“. Aber zwischen den germanistischen Schwergewichten platziert Kurzke immer wieder Triviales, ja in seiner scheinbaren Belanglosigkeit aufreizend Fremdes wie „Hunde“, „Ehepflichten“ oder „Zigarre“. Heraus kommt wie so oft bei Kurzke das höchst lebendige Bild von einem Autor – gegen den Strich gekämmt und deshalb von großer Frische, aber trotzdem wissenschaftlich exakt bis in die Feinheiten.
Was aber trieb den „Meister“ (wie Kurzke von seinen Studentinnen und Studenten genannt wird) dazu, seine nunmehr dritte Monographie über den „Zauberer“ (wie Thomas Mann in seiner Familie genannt wurde) zu schreiben? Der Schriftsteller Thomas Mann versuchte sein Leben lang, das Wort „auf die Spitze seiner Bedeutung zu bringen“, der Literaturwissenschaftler Hermann Kurzke versucht im Grunde das gleiche: Das Entscheidende über Leben und Werk Thomas Manns immer pointierter, immer genauer, immer treffender zu formulieren.
Das ist ihm trefflich gelungen, und eine weitere Steigerung scheint kaum möglich. Aber bei Kurzke weiß man eben nie.
Ein Beitrag von Matthias Weber