Nellie Bly: Girl Stunt Reporter

Prof. Pu empfiehlt: „Zehn Tage im Irrenhaus“ von Nellie Bly

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Man kann Nellie Bly eine Urahnin von Günter Wallraff nennen. Die junge New Yorker Reporterin wagte sich als Erste an das heran, was man heute „Investigativen Journalismus“ nennt:

Am 22. September [1887] wurde ich von der New York World gefragt, ob ich mich in eine der New Yorker Anstalten für Geisteskranke einweisen lassen könnte, um einen schlichten und ungeschminkten Bericht über die Behandlung der dortigen Patientinnen, die Methoden der Verwaltung usw. zu verfassen. Ob ich den Mut hätte, mich derart hart auf die Probe stellen zu lassen, wie es dieser Auftrag verlangte? Könnte ich die Merkmale des Wahnsinns gut genug vortäuschen, um die Ärzte zu überzeugen und um eine Woche unter den Verrückten zu leben, ohne dass die Aufseher dort herausfänden, dass ich bloß ein Störenfried war, der sich Notizen macht?

Nellie beginnt vor dem Spiegel ihr Irre-Sein zu üben, nicht ohne immer wieder daran zu zweifeln, ob sie es ins Irrenhaus schaffen wird. Vor allem aber hat sie Furcht, dort nicht wieder heraus zu kommen. Sie denkt sich eine Legende aus und bittet in einem Wohnheim für Arbeiterinnen um ein Zimmer, um dort dann die Verrückte zu mimen. Es gelingt ihr, den Mitbewohnerinnen und der Hausleitung durch ihr Verhalten so viel Angst einzujagen, dass sie tatsächlich von einem Richter in die Irrenanstalt von Blackwell’s Island eingewiesen wird. Was ihr in den nächsten Tagen dort widerfährt, ist erschreckend und genau so, wie man sich Irrenanstalten des 19. Jahrhunderts immer vorgestellt hat. Aufseherwillkür, Gewalt, schlechtes Essen, Kälte, vor allem aber keinerlei Betreuung, von Behandlung ganz zu schweigen. Und dazwischen immer wieder Frauen, die gar nicht geistig gestört sind, sondern durch unglückliche Umstände in die Anstalt kamen.

Von dem Moment an, da ich die Station für Geisteskranke auf der Insel betrat, machte ich keinen Versuch mehr, meine Rolle der Geisteskranken weiter aufrechtzuerhalten. Ich redete und verhielt mich genau so, wie ich es auch sonst im Alltag tue. Und doch, so merkwürdig es klingt: Je vernünftiger ich redete und handelte, für desto verrückter hielt man mich (…)

Nach zehn Tagen wird sie von einem Anwalt aus der „menschlichen Mausefalle“ befreit, wie sie die Irrenanstalt nennt. Und empfindet sich als egoistisch, weil sie ihre bedauernswerten Mitgefangenen im Stich läßt. Immerhin, vier Tage vor Veröffentlichung ihres spektakulären Artikels im Oktober 1887, wurde der Etat für die „sozialen“ Einrichtungen New Yorks um 1,5 Millionen Dollar erhöht.

Nellie Bly war eine der ersten „Girl Stunt Reporter“, die verdeckt über Missstände in den Großstädten berichteten. Ende des 19. Jahrhunderts boomte in den USA das Zeitungswesen und die Journalistinnen mussten sich nicht mehr nur mit Mode- und Gartenartikel begnügen.
Interessant liest sich Blys Reportage in ihrer Mischung aus Naivität, Berufenheit und einem Hauch Sensation. Sprachlich meilenweit entfernt von einem Egon Erwin Kisch, ist es doch ein kleines Stück Pressegeschichte, sehr schön aufbereitet, mit vielen erhellenden Anmerkungen und einem erläuterndem Nachwort.

Nellie Bly
Zehn Tage Irrenhaus
Übersetzung und Nachwort von Martin Wagner
AvivA € 18,50
978-3-932338-48-9
www.nellieblyonline.com

Quelle: Petra Unger/SchönerDenken

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