Nele über „Das weiße Band“
Was Gott aus Sicht der Menschen gefällt, ist im norddeutschen Dorf Eichwald, in dem Michael Hanekes aktueller Film „Das weiße Band“ spielt, streng protestantisches Gesetz. Die Erwachsenen sehen zu, dass sie die Regeln vermeintlich im Geheimen brechen. Das gilt auch in den besten Familien. Aber nie für die Kinder: Sie haben hier nichts zu lachen und lachen auch so gut wie nie.
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg sind sie einem Wertesystem unterworfen, das sie nicht verstehen. Weil die Erwachsenen in ihrer Umwelt es zwar predigen, aber nicht leben. Ausgerechnet der Pfarrer (Burghart Klaussner) des Dorfes verkörpert diesen Grundsatz in Reinform: Er versucht seinen Kindern die Unschuld einzubleuen, indem er seine Hände in Blut wäscht. Anstand meint er zu vermitteln, indem er schlägt, fesselt und psychisch vergewaltigt. Ein Beispiel für seine fragwürdige Moralbildung ist das titelgebende weiße Band, dass seine Kinder wie ein Stigma tragen müssen, damit sie tugendhaft bleiben.
Geradezu erschreckt wirkt der Gottesdiener dann, wenn ihm wahre Unschuld begegnet, in Person seines kleinen Sohnes (Thibault Sérié), der ihm selbstlos den gesund gepflegten Findlingsvogel schenkt. Ein Ersatz für den Piepmatz des Geistlichen, der mit einer Nagelschere getötet wurde, und gekreuzigt auf seinem Schreibtisch lag.
Die Hinrichtung des Vögelchens ist die einzige Tat, bei der eindeutig ist, wer sie begangen hat. Der Urheber der barbarischen Verbrechen an mehreren Menschen, die der Stimmung des Filmes eine unheilvolle Spannung und den roten Faden verleihen, bleiben unaufgeklärt. Im Prinzip ist es nicht wichtig zu wissen, wer sie ausführte, sondern wer der Urheber ihrer Brutalität ist. Denn schließlich ist jeder in Frage kommende Täter nur ein Produkt der kranken Dorfmoral. Der kleine Ort steht damit repräsentativ für ein Deutschland, in dem der Nährboden für zwei Weltkriege geschaffen wurde. Die Kollektivschuld wird in Eichwald bereits vor dem Ersten Weltkrieg intensiv eingeübt, die Doppelmoral ist ihre mächtige Grundlage.
Der junge Dorflehrer (Christian Friedel), der als Erzähler (Ernst Jacobi) mit wunderbarer Stimme und Intonation rückblickend die Geschichte erzählt, versucht verzweifelt aufklärerisches Licht in die ungerechten Ohnmachts-Strukturen zu bringen. Und wird am Ende ausgerechnet durch eine reine Liebe erpressbar.
Hanekes erschreckende Parabel von der Kraft des Unrechts gewinnt einen großen Reiz durch die Andeutung. Der Zuschauer wird immer wieder der Erwartung schrecklicher Anblicke ausgesetzt, um dann in dieser Spannung zurückgelassen zu werden. Der Regisseur gönnt einem nur selten den im Laufe des Films schon fast erleichternden Anblick der Grausamkeit, sondern setzt auf die leise Bedrohlichkeit der innerlich zerstörten Kinder: Wie die seltsam platinblonden Kuckuckskinder aus dem Horror-Klassiker „Das Dorf der Verdammten“ tauchen sie immer in einer Gruppe auf und starren ihre Umwelt seltsam leblos an. Als würden sie mit ihrem Blick bereits ihre Zukunft als grausame Kriegstäter sezieren. Nur ein Beispiel für die großartigen Darsteller und eine Rollenbesetzung, die man nur als perfekt bezeichnen kann.
Die Kunst Hanekes besteht darin, in dieser konsequent gezeichneten, schwarz-weiß gehaltenen Welt das Leben aufflackern zu lassen. Sei es durch die hinreißend tapsig beginnende Bindung zwischen Kindermädchen Eva (Leonie Benesch) und dem Dorflehrer oder durch die entwaffnend offenen Fragen und Handlungen der kleinen Kinder, die noch nicht von ihrer fanatisch reinen Umgebung verschmutzt wurden – das Licht bricht sich in wenigen Momenten seinen Weg, lässt einen lächeln, schwärmen und erinnert daran, dass es immer eine Möglichkeit geben muss, gegen den Strom zu schwimmen.
Ein Beitrag von Nele F.C. Schüller
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Christopher findet „Eichwald ist kein Ort des Lächelns.“