Severins Sehnsucht – zweiter Teil

Figuren und Flügelrad der Weihnachtspyramide

Eine Adventsgeschichte! SchönerDenken proudly presents „Severins Sehnsucht“ von Bettina Fächer – in drei Teilen, gelesen von der Autorin höchstpersönlich.

Was bisher geschehen ist:
Severin, der kleine Musiker aus dem Engelsorchester, hat Heimweh – nach der Werkstatt von Meister Ladislaus im Erzgebirge und noch mehr nach dessen Frau Annabell. In der großen Weihnachtspyramide, in der Severin im Einsatz ist, sucht er Trost bei Leonie. Mit ihr kann er reden – nachts, wenn es auf dem Mainzer Weihnachtsmarkt still und dunkel ist. Denn auch Leonie kennt Ladislaus und Annabell sehr gut …


Folge 651
SEVERINS SEHNSUCHT Teil 2


… “Und sie haben sich nicht gestritten?”, fragt Leonie vorsichtig.

“Naja”, sagt Severin, “weiß ich doch nicht …”

Oh doch, denkt Leonie. Du weißt es. Aber vielleicht – vielleicht war das eine andere Zeit. Sie selbst hatte ja auch nicht gleich bemerkt, was da vor sich ging – zumindest nicht bis zu diesem einen Abend …

Schließlich war Ladislaus doch immer lustig gewesen – vor allem, wenn sein Freund Manni kam. Und manchmal hatte er nach einer Weile die Schnapsflasche vorgeholt und sich mit Manni zugeprostet.

Der kleine Römer: eine Figur in der Pyramide - Foto: Bettina FächerManni kam immer öfter, besonders dann im Herbst. Leonie konnte es beobachten. Auf dem großen Regal zwischen Fenster und Durchgangstür zur Werkstatt hatte Ladislaus sie schon vor dem Sommer zur Seite gestellt, obwohl zu ihrer Vollendung nicht mehr viel fehlte, etwas Verzierung noch an ihrem Kleid und die Arme, die schon fertig lackiert bereit lagen. Von dort aus, im schwächer werdenden Licht, konnte Leonie schon Mannis Silhouette erkennen, wenn er kam.

Für Manni hatte Ladislaus immer – und immer mehr – Zeit. Das hatte ihm Annabell dann auch vorgeworfen. Dieses eine Mal – an dem Abend, als sie ihm doch bis in die Werkstatt gefolgt war. Obwohl Leonie das Geschrei schon vorher von drüben aus der Wohnstube gehört hatte.

Diesmal ließ Ladislaus aus irgendeinem Grund nicht die Tür zwischen Haus und Werkstatt laut hinter sich zuknallen, um dann in rasender Schnelle irgendeine Fantasiefigur aus einem Kantholz zu drechseln oder an einem halbfertigen Werkstück mechanisch herumzuschmirgeln, den Lichtkegel einer Lampe im Rücken. Oft genug hatte er sich auch auf den kleinen Holzstuhl beim Bohrer gehockt, auf dem Manni sonst immer saß. Wenn Ladislaus sich dort niederließ, schwer und mit einer müden Geste, eine Hand aufgestützt, beugte er den Ellbogen mehr und mehr, bis sein Körper Kontakt mit der niedrig gelagerten Sitzfläche gefunden hatte, und ließ sich zuletzt noch ein wenig sacken. Bis er dann still saß und vor sich hin auf den Boden glotzte.

Doch an diesem Abend war er in Bewegung, erhitzt, riss die Werkstatt-Tür weit auf, ging zur Werkbank, wo noch die Arbeitsleuchte brannte, und wischte mit einem Schwung alles zur Seite, was dort lag.

Er setzte zwei Fäuste auf die Holzplatte und rief zur Tür hin: “Ja, alles geht den Bach runter …”

Und leiser zu sich selbst: “Was für ein Schwachsinn …”

“Und ich bin schuld, klar”, schrie er über den Tisch hinüber – als stehe er an einer Theke, an der abgerechnet wird. Gestützt auf einen Amtstisch im Gerichtssaal.

Annabell erschien in der Tür – ruhig scheinbar. Doch das täuschte. Warum kam sie herüber?

“Du – weißt – genau – was ich – meine”, sagte sie, leise, langsam, die Worte einzeln betonend.

“Weiß ich nicht”, schrie er wie irre und stieß die Luft aus. Schnaufte wie ein Tier. Suchte lange die verlorene Beherrschung.

Und dann halblaut: “Was ist verkehrt an Manni. Du würdest ja wohl Deine Freunde … Möcht mal sehen, ob Du sie hängenlassen würdest, wenn sie den Job verlieren. Hier in dieser gottverdammten Gegend. Und ohne Auffanggesellschaft wie damals. Wenn man da nicht .. wenn man nicht ein bisschen Aufmunterung braucht. Wenn…”

“Wenn alles abrutscht, sag’s doch”, fiel ihm Annabell ins Wort. “Wenn nichts mehr funktioniert. Der hat sich doch überhaupt nicht mehr im Griff … Schau ihn doch mal an! Da bist Du ja der Richtige, um ihm zu helfen … mit Deiner Drecks-Werkstatt. Meister Ladislaus!”

Annabell ließ einen hohen Ton hören. Schneidend, gemein. Leonie zog ein wenig den Kopf ein.

Ein Laut wie ein Aufheulen war die Antwort. Ladislaus‘ Atmen. Das Licht fiel seitlich auf seine linke Wange. Leonie konnte sehen, wie seine Kiefermuskeln sich spannten.

“Bis jetzt war Dir doch alles recht, was hier rausspringt … Bisher ging’s uns doch gut … Jetzt reicht’s auf einmal nicht mehr, oder was?”

“Mir reicht’s schon lange! Ich hab’s so satt.” Annabells Stimme war ganz verzerrt. “Die ganze Post, die Du da drüben in Deiner gammeligen Schublade hortest. Die ganzen Rechnungen, ungeöffnet, und den Steuer-Kram …”

Ladislaus blickte zu Boden. Die Wut verblich, Defensive sickerte durch.

“Verdammt, Ladislaus. Du hast es versaut …”
Annabell trat gegen den niedrigen Holzstuhl. Er machte ein störrisches Geräusch, bewegte sich kaum in den Raum hinein.
“Du hast es aufgegeben … es ist Dir scheißegal, was ich Dir gesagt habe …”

“Das stimmt nicht”, sagte Ladislaus fest.

Und Annabell brüllte wieder. “Das stimmt nicht. Das stimmt nicht. Maaaannn … Du kapierst es einfach nicht! Wenn Du immer so weitermachst, dann IST es so! Ich kann auch die Wand anschreien … es ist so völlig egal …”

Annabell fing an zu weinen.

“Annabell”, sagte Ladislaus. “Hier, der Auftrag ist doch fast fertig.”
Er holte Leonie vom Regal.

“Noch ganz schnell … haben wir gleich fertig gemacht. Dann wird alles los … nach Mainz geschickt, und schon kommt wieder was rein. Wie vereinbart.” Er drehte das fertige Stück für Leonies linken Arm in den Händen, als wolle er es noch einmal kontrollieren vor dem Anpassen.

“Aber die Kleine hier, die Schöne …”, er wandte sich Annabell zu, schwenkte Leonies Arm sachte in der Luft hin und her, “die behalte ich besser. Die schenk ich Dir …”

Annabell drehte sich um, war mit ein paar Schritten schon fast an der Tür.

“Ich will Deine verdammten Ersatzkinder nicht”, schrie sie und stürmte hinaus.

*

“Vielleicht hast Du recht, Severin”, sagt Leonie. “Kein Streit. Ich sehe sie jedenfalls ganz deutlich vor mir. Sie haben zu tun. Schnee schieben, Holz hacken, Einkäufe machen. Ladislaus repariert noch was in der Werkstatt. Annabell schmückt bestimmt einen Baum. Es geht ihnen gut, Severin. Und sie denken sicher auch an Dich.”

“Stimmt nicht”, sagt Severin plötzlich düster. “Sie haben mich doch schon vergessen. Annabell zuallererst.”

Abendstimmung in der Pyramide - Foto: Bettina Fächer“Ach was”, sagt Leonie, und weiß selbst, dass es nicht überzeugend klingt.
“Und außerdem: Hier bei uns ist es doch auch ganz schön.”

“Pfft, kein bisschen Schnee hier! Kein Bach, kein Wald. Immer nur Stadt. Jeden Tag dasselbe. Die doofen Trompeten-Engel und die Säusel-Tanten. Die sind doch langweilig. Weiß gar nicht, wieso Ladislaus die alle hier drin haben wollte.”

Und bevor Leonie antworten kann, schiebt er nach:
”Jaja, ich weiß schon: ‚Weil sie eben zum Orchester gehören‘ – das sagst Du immer. Irgendwann hau ich ab. Hab mir schon was gebastelt. Dann seil‘ mich ab bis nach unten.”

Leonie will schon den Mund öffnen, doch dann scheint sie nachzudenken. Sie hält einen Moment inne, macht kurz die Augen schmal, dann lächelt sie.

“Da komme ich auch mit, Severin, unbedingt.”

Und nach einer kurzen Pause:
”Du musst mir unbedingt versprechen, mich mitzunehmen! Lass mich bloß nicht hier zurück … Ich will auch dringend runter.”

“Was willst Du denn da unten? Was könnte Dich da schon interessieren?”, fragt er.

“Naja …”, sagt Leonie gedehnt und denkt wieder nach.

“Weißt Du …” Sie beißt sich auf die Lippe. “Ich hab halt auch meine Gründe.”

“Du bist festgeschraubt”, sagt er frech.

“Und Du hast überhaupt kein blödes Seil”, schnappt sie zurück.

“Hoho”, sagt Severin, plötzlich in heiterer Stimmung. “Das macht Dich ja wütend …”

“Gar nicht!”

“Was gibt es denn, dass Du unbedingt runter willst?”

“Wenn ich’s Dir sage, plauderst Du’s nur aus. Dann werden sich hier alle wieder mal das Maul zerreißen.” Leonie macht ein finsteres Gesicht. Nicht aufgesetzt, diesmal.

“Ein Geheimnis?” Severin fängt an zu zappeln. Die Becken klirren ein bisschen.

“Schhhh, halt doch still …”

“Also, ein Geheimnis!”

 

Der dritte (und letzte) Teil folgt morgen!
Hier der Link zum ersten Teil.

© Bettina Fächer

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