China – aufstrebende Macht und Gastgeber der Olympischen Spiele: Im Spannungsfeld zwischen Menschenrechtsverletzungen, Doping und einer faszinierenden Kultur schreiben die SchönerDenker Briefe in die chinesische Gegenwart.
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Liebe Adepten der chinesischen Kampfkunst „Tai Chi“!
Seit Jahren seid Ihr damit befasst, langsame, zeitlupenhafte Bewegungen zu erlernen, die nicht nur den Körper stärken sondern auch den Geist entschleunigen. Ihr müht Euch redlich im Schweiße Eures Angesichts, diese jahrtausende alte Kunst der Meditation in Bewegung als Tai Chi Chuan oder Qi Gong zu erlernen. Und wenn Ihr in Euch selbst versunken dem Gefühl einer vollkommenen Achtsamkeit nachspürt, denkt Ihr an die unzähligen Chinesen, die allmorgendlich in Parks oder an weniger idyllischen Orten die selben Bewegungen ausüben, und so nicht nur etwas für sich selbst sondern auch für die Umwelt und Gesellschaft tun; denn je mehr Angehörige einer Gesellschaft auf diese Weise meditieren, um so besser wird diese Gesellschaft insgesamt – so der Glaube der Tai Chi-Adepten.
Ihr, liebe westliche Adepten, überseht dabei zweierlei. Diese Kampfkünste waren vor allem das Privileg der besser gestellten, der Adligen und selbstredend des Kaisers. Diese hochgestellten Personengruppen erlernten und praktizierten die lebensverlängernden Künste des Qi Gong und des Tai Chi. Der einfache Reisbauer hingegen kam äußerst selten in den Genuß der Vorteile dieser Kampfkünste.
Zum zweiten wurden diese Künste unter Mao – spätestens in der Kulturrevolution – als veraltetes Relikt feudaler Zeiten gnadenlos unterdrückt und beinahe ausgemerzt. Nicht grundlos verließen viele Tai Chi-Meister damals die VR China.
Heutzutage – so wird mancher Tai Chi-Enthusiast mir entgegnen – gibt es aber doch wieder sehr viele Schulen und Trainingsstätten, sowie Lehrer und Wettkämpfe. Das ist richtig, doch die alten Künste sind mutiert; meist zu rein sportiven Disziplinen (demnächst vielleicht sogar olympische?) oder zu Übungen folkloristischer Natur, die als historisches Staatserbe ausgestellt werden können. Auch in Tibet werden wieder Klöster renoviert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Dennoch, liebe Tai Chi-Adepten in Europa und anderswo, laßt Euch nicht davon abhalten, weiterhin unermüdlich Peitsche, Kranich und Schlange zu üben! Gesund ist es auf jeden Fall und für das gesellschaftliche Umfeld sicher von Vorteil. Dabei bedenkt eines: Es gibt sie noch, die Meister, die aus einer ununterbrochenen Familientradition ihr Wissen über Tai Chi und Qi Gong vermittelt bekamen – doch die leben entweder im Ausland oder sind schon seit Jahrzehnten irgendwo im riesigen Reich der Mitte untergetaucht. Einen prägenden Einfluß auf die chinesische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts haben sie schon lange nicht mehr.
Mit nachfühlenden und aufrüttelnden Grüßen
PJ