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Prof. Pu empfiehlt: „Aufruhr“ von Shahsi Tharoor
„Lies mal, das ist etwas ganz anderes …“ waren die Worte, mit denen mir eine Freundin dieses Buch überreichte. Und dann habe ich es erst einmal weggelegt. Da mir aber geliehene Bücher immer ein schlechtes Gewissen bereiten – verliehene Bücher kommen schließlich auch mal gerne wieder nach Hause – musste es gelesen werden. Und die Freundin hatte recht – es ist eine Entdeckung! Ich liebe es, wenn man mir Fakten über Dinge, von denen ich bisher wenig bis gar keine Ahnung hatte, in Romanform näher bringt. Und ich Wissensaneignung und Unterhaltung in einem Buch bekomme.
Priscilla, eine junge Amerikanerin, Helferin in einem Frauenprojekt, kommt bei religiösen Unruhen in der indischen Provinz ums Leben. Der Roman beginnt mit den Berichten indischer und amerikanischer Zeitungen über den Todesfall. Danach eröffnet sich eine außergewöhnliche Komposition aus Tagebucheintragungen ihrer Mutter, Aufzeichnungen und Recherchen des Journalisten Randy Diggs, der die Eltern auf ihrer Spurensuche begleitet, Gesprächen mit den Vertretern der Hindus und Muslime, mit dem Polizeichef Gurinder und dem Bezirksdirektor Lakshman über die Gründe des Aufruhrs. Mit dem Vater Priscillas, der in den siebziger Jahren vergeblich versuchte, Coca Cola in Indien zum Marktführer zu machen.
Wissen Sie, ich bin durch die Hölle gegangen, immer wieder habe ich Gott gefragt, warum sie in einem Streit getötet werden musste, mit dem sie nichts zu tun hatte. Aber jetzt begreife ich, dass es ihre Entscheidung war, sich von der Leidenschaft für dieses Land einfangen zu lassen. Sie wollte Indien zum Besseren verändern. Sie arbeitete für die Zukunft dieses Landes und wurde von seiner Vergangenheit aus dem Leben gerissen … Aber ich glaube jetzt, dass ich Coca Cola bitten werde, mich noch mal nach Indien zu schicken. Um es noch einmal zu versuchen. Ich denke, Priscilla hätte sich das gewünscht.
Und den Briefen Priscillas an ihre Freundin, in denen sie ihr die Liebesbeziehung zu Lakshman, nach eigener Aussage „überarbeitet, übergewichtig und verheiratet“, gesteht. Eine spannende und informative Mischung aus Liebesgeschichte und Tatsachenroman. Endlich habe ich ein wenig vom Konflikt zwischen Pakistan und Indien, zwischen Hindus und Muslimen und der Geschichte dieser beiden Staaten verstanden. Wie Lakshman einmal zu Priscilla sagt:
(Die Hindus) … wollen Rache gegen die Geschichte nehmen, und dabei erkennen sie nicht, dass die Geschichte sich selber an ihnen rächt …
… Warum sollen Muslime von heute dafür bezahlen, was Muslime vielleicht vor vierhundertfünfzig Jahren getan haben? Das ist alles nur Politik, Priscilla.
Oder der Vertreter der Muslime dem Journalisten einen Vortrag hält:
Ihr ausländischen Journalisten und Fotografen berichtet doch nur über das Indien, das ihr sehen wollt. Das schreckliche, dunkle Indien, in dem Mord und Totschlag herrschen, wie bei diesem Aufruhr, für den Sie sich natürlich brennend interessieren: Das macht sich gut neben Armut und Krankheit, den Witwen von Benares, dem Kastensystem und den Unberührbaren, den Armen, die Blut oder ihre Nieren verkaufen, den Slums von Kalkutta oder Bombay, den Bräuten, die wegen ihrer mangelhaften Aussteuer verbrannt werden – wie viele solcher Geschichten haben Sie für Ihre amerikanischen Leser schon geschrieben, Mr. Diggs? … Ich leugne nicht, dass es diese Dinge in Indien gibt, Mr. Diggs, aber sie machen nur einen Teil unserer Realität aus und nicht einmal einen allzu großen. Aber es ist das einzige, was Sie und Ihre Konsorten interessiert, und dann erzählen Sie der ganzen Welt, das sei Indien.
Wunderbar, auf diesem Wege seinen Horizont zu erweitern, das Halbwissen etwas anzureichern und gleichzeitig gespannt auf die Klärung der Umstände zu lauern, durch die Priscilla ums Leben kam. Denn nichts ist so, wie es scheint …
Aufruhr – Eine Liebesgeschichte
von Shashi Taroor
Suhrkamp-Taschenbuch 3792
ISBN 978-3-518-45792-4
€ 9,90