Und natürlich ist schon wieder was passiert
Nicole liest den neuen Brenner: „Der Brenner und der liebe Gott“
Ich kenne sie alle, vor allem Serienermittler sind meine Spezialität. Die Kontinuität des Verbrechens hat etwas Beruhigendes. So habe ich meine Sympathie an viele Kommissare verschenkt, aber nur einem bin ich verfallen. Und das ist der Brenner.
Dabei ist der Brenner in seinem neuesten Krimi gar nicht mehr der Brenner, sondern der Herr Simon. Nachdem er im letzten Fall eine Kugel in den Kopf gekriegt hat, hat sich einiges verändert im Leben des österreichischen Expolizisten und Exdetektivs. Ruhiger ist er geworden, auch dank der Tabletten. Und als Chauffeur ist er tätig, fährt die kleine Helena von Wien nach München und zurück, zwischen Mutter und Vater hin und her. Und dabei geht ihm die zweijährige Helena dann auch verloren, quasi geklaut.
Aber er hat sich gezwungen, das Auto abzusuchen. Du wirst sagen, wo soll sie denn sein, die Helena, die wird sich nicht unter der Kühlerhaube versteckt haben. Aber da siehst du schon, dass der Schock ihn langsam richtig verrückt gemacht hat. Die Panik hat ihn verrückt gemacht, und was die Panik übrig gelassen hat, haben die Tabletten verrückt gemacht. Weil er hat sich jetzt an den Gedanken geklammert, dass sich Kinder gern verstecken. Das ist ja etwas Lustiges für Kinder, ja was glaubst du. Und obwohl das kleine Mädchen vom Kindersitz aus überhaupt nicht in der Lage gewesen wäre, sich irgendwo zu verstecken, hat er das ganze Auto abgesucht. Vielleicht liegt sie bequem hinter seiner Rückenlehne und wartet darauf, dass der dumme Fahrer sie endlich findet. Aber keine Helena hinter den Sitzen, keine Helena unter den Sitzen, keine Helena im Handschuhfach, keine Helena unter den Fußmatten, nicht einmal eine Helena im Kofferraum.
Also macht sich der Herr Simon auf die Suche nach der Helena. Man muss ihm zugute halten, dass er nicht an allen sieben Beerdigungen Schuld war, die in der Folge stattgefunden haben. Und dass die Helena eigentlich gar nicht entführt worden ist, zumindest nicht so richtig, hat ja auch keiner wissen können, auch nicht der Brenner. Dumm ist es eben gelaufen, dass er bei der Suche nach der Tochter auch noch auf die dunklen Geschäfte ihres Vaters, des Bauunternehmers Kressdorf, gestoßen ist. Und dass mit der Abtreibungsklinik der Mutter auch nicht alles gestimmt hat, das konnte er ebenso wenig wissen. Also kein Wunder, dass die Tabletten bei der Belastung beim Brenner nicht die ganze Zeit gewirkt haben.
Und siehst du, das war die Wanderwut. Das ist eine Notreaktion, so wie der Körper umfällt, wenn zu wenig Blut in den Kopf kommt, so fängt die Wut an zu wandern, wenn du sonst zerspringen würdest. Das ist rein zur Entlastung. Das musst du dir vorstellen wie ein Sportler, der verschiedene Muskeln immer schön abwechselnd trainiert. Und genau wie eine übertrainierte Muskulatur braucht auch die Spitzenwut ab einer gewissen Größe dauernde Abwechslung, damit der Wuthaber nicht zugrunde geht, sprich, die Wut muss sich bewegen, die Wut spaziert von einem Gegenstand zum anderen, von einer Person zur anderen, vom Blattrandmann zum Barmann, vom Barmann zur Renate, von der Renate zur Cola light, vom Cola light zur Musik, von der Musik zur Milan-Sonnenbrille, auf alles, was du siehst oder hörst oder riechst, kriegst du abwechselnd eine Wut, damit du nicht daran erstickst.
Natürlich kriegt der Brenner seine Wut wieder in den Griff und eigentlich ist es schon bewundernswert, wie gelassen er auf den Toten in der Jauchengrube reagiert und wie locker er den Tod vom Ex-Tankstellenwirt nimmt. Da kriegt man als Leser eher einen Schauder als der Brenner.
In jedem Fall ist man Zeile für Zeile von „Der Brenner und der liebe Gott“ ganz nah dabei am Geschehen. Und eins ist auch sicher, ein so enormes sprachliches Talent wie das von Brenners geistigem Vater Wolf Haas ist eh selten. Und hat man einen seiner Krimis gelesen, muss man aufpassen, dass man nicht ebenfalls so verhackstückt und perfekt auf den Punkt daherredet wie der Haas. Ansteckungsgefahr Hilfsausdruck. Quasi. Aber das musst du wissen, einfach klasse.
Wolf Haas
Der Brenner und der liebe Gott
Hoffmann und Campe
224 Seiten, gebunden
18,99 Euro
ISBN: 978-3-455-40189-9