Da der achtfach „oskar-ausgezeichnete“ Film „Slumdog Millionaire“ am 19. März in die Kinos kommt, empfiehlt PJ als Begleitbuch „Der weiße Tiger“ von Aranvind Adiga.
Der chinesische Ministerpräsident, so meldet der indische Rundfunk, besucht demnächst Indien. Das veranlasst Balram Halwai, dem hohen Besucher E-Mails zu schreiben. Denn er möchte, dass der Politiker mit einem realistischen Bild auf den indischen Subkontinent kommt. Und der Ich-Erzähler Balram Halwai kann dieses Bild vermitteln, ist er doch selbst aus einem kleinen unbedeutenden Dorf kommend aus der Armut über viele Stufen aufgestiegen zu dem, was er heute ist – ein erfolgreicher Unternehmer.
Und während Balram Halwai nächtens am PC sitzt und dem chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao erzählt, wie er sich hochgearbeitet hat und wie er die Regeln von Hierarchie, Kasten, Religionen und Korruption lernte und auch einzusetzen lernte, während er alles dies erzählt, erzählt er dem Leser, wie Indien „funktioniert“: Die indische Gesellschaft – so sein Bild – ist wie ein Hühnerkäfig; alle, die im Käfig sind, kämpfen um ein bisschen Platz und Luft, aber sie revolutionieren nicht. So tragen sie auch dazu bei, dass der Käfig funktioniert. Sie wissen, dass sie ausgenutzt und geschunden werden, dennoch – auch wenn keine Käfiggitter mehr existierten, würden sie weiter ihre Rolle spielen, sie haben das System akzeptiert und durch ihr akzeptierendes Verhalten stabilisieren sie das System weiterhin.
Nur Balram Halwai arbeitet sich nach oben, wird Chauffeur, dann erster Diener, denn er versteht schnell, wie das System funktioniert, aber er akzeptiert es nicht. Deshalb bezeichnet ihn bereits sein Grundschul-Lehrer als „weißen Tiger“ – im indischen System seien Menschen wie Balram so selten wie weiße Tiger in der Wildnis. Doch eines ist dem ehemaligen Dorfbewohner wichtig:
„Nur einen Tag lang, eine Stunde, eine Minute lang zu wissen, was es heißt, kein Diener mehr zu sein – das war es wert“.
Denn um das Startgeld für ein Unternehmen, sein Unternehmen zu bekommen, muß er einen Mord begehen.
Aranvid Adiga macht sich mit diesem Buch sicherlich keine Freunde im traditionellen Indien. Denn während die Original-Story von „Slumdog Millionaire“, das Buch „Rupien, Rupien“, ein modernes Bollywood-Märchen ist vom armen Slumbewohner, der durch seine Vita zufällig die wenigen Dinge erfährt, die er exakt benötigt, um die TV-Show-Millionenfragen zu beantworten, ist „Der weiße Tiger“ eine realistische Geschichte aus dem indischen Alltag, wie sie immer wieder geschehen kann und wohl auch geschieht.
Sie öffnet dem Europäer die Augen, der vom exotischen Indien schwärmt und allenfalls die wenigen Computer-Inder sieht, die in ihren eigenen Shopping-Malls westlichen Lebensstil pflegen. Diese modernen Inder – so impliziert Adiga – scheitern in zweierlei Beziehung: Für den westlichen Lebensstil sind sie nicht genug entwickelt, nicht „reif“ genug und für den indischen Lebensstil (sprich: Korruptionsstil) sind sie zu westlich geworden. Denn auch für die Reichen gilt: Sie müssen die Regeln des Hühnerkäfigs befolgen. Wer Indien ein wenig zu kennen glaubt und seine Menschen liebt, sollte das Buch lesen.
Aranvind Adiga
Der weiße Tiger
C.H.Beck
ISBN 978-3-406-576911