„Fliegende Koffer“: Näher dran geht nicht

Prof. Pu empfiehlt: „Fliegende Koffer“ von Annegret Held

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Prof. Pu und die Pücher

„Du sollst wissen, Ännchen, auch wenn ich jetzt gehe, dass ich dich – unsäglich – liebe.“

Das waren die letzten Worte von Simon, dem Polizisten, Annettes einzige Liebe. Die er seiner Familie zuliebe wieder verlassen hat. Zehn Jahre ist das jetzt her. Und jetzt steht er wieder vor ihr, im Café Istanbul, einem verrauchten Raum in den Katakomben des Frankfurter Flughafens, einem heimlich betriebenen Café der Kofferschlepper. Dort treffen sich die abgekämpften Schichtarbeiter des Riesenbetriebes auf einen Plastikbecherkaffee und eine Zigarette. Annette arbeitet im Flugsicherungsbereich. In zermürbenden Tag- und Nachtschichten kontrolliert sie Tausende von Reisenden, mit der Sonde, in der Kabine, am Röntgengerät für Gepäck. Ihre Kollegen, alles Gestrandete, ein Theologe, ein Augenoptiker, eine ehemalige Stabsoffizierin aus dem Kosovo. Alle versuchen, mit diesen mörderischen Arbeitszeiten klar zu kommen, jeder auf seine Weise.

heldAnnette probiert immer wieder, aus den Massen, die jeden Tag und jede Nacht an ihr vorüberziehen, das Individuum herauszufiltern und bemüht sich, freundlich zu sein. Wohlwollende Blicke für die verschleierten Frauen, liebevolle Gesten oder ein Lächeln für die genervten Passagiere, die zum x-ten Mal kontrolliert werden. In Gedanken runzelt sie immer wieder die Stirn über die teilweise absurden Sicherheitsregeln, durch die Tonnen von Parfüms, Weinflaschen, Deosprays und Honiggläser im Müll landen. Als sie es einmal nur wagt, sich einen Hauch eines zum Wegwerfen bestimmten Parfüms anzusprühen, ist die Hölle los. Durch die Routine hat sie sich einigermaßen im Griff, lange genug hat es gedauert, bis sie die Abwesenheit von Simon ertragen konnte. Und jetzt steht er vor ihr, im Café Istanbul, und es wirft sie aus der Bahn:

„Nicht geplant. Dieses Aufeinandertreffen. Nie nicht. Jäh bin ich aus mir selbst geraten, was soll das? Was? Eine Viertelstunde dauert das, glaube ich, oder fünf Minuten. Wir stehen voreinander und stammeln irgendwelche Brocken, und am Ende sind wir, glaube ich, verabredet.“

Das Chaos nimmt seinen Lauf. Braucht sie nicht sowieso nahezu unmenschliche Kräfte, diesen Knochenjob zu bewältigen, in dem es sogar verboten ist, sich zwischendurch hinzusetzen, so hat sie jetzt wieder mit der Verwirrung des Herzens zu kämpfen. Und damit, dass Simon zu allem Überfluss auch noch ihr neuer Vorgesetzter ist. Er ist streng, sieht überall terroristische Gefahren, neigt zum Verfolgungswahn. Außerdem ist er todunglücklich, weil ihn seine Frau mit Kind verlassen hat und sucht Rettung bei Annette. Sie weiß nicht, wie sie das alles einordnen soll, er kommt ihr so verändert vor. Als wäre in seinem Kopf etwas ver-rückt. Leider täuscht ihr Gefühl sie nicht, ihr starkes Einfühlungsvermögen, das man bekommen kann, wenn man ständig mit vielen Menschen zu tun hat.

Ihre kleinen Taten sind von tiefer Mitmenschlichkeit. Sie lässt einer alten Frau das Marmeladenglas für ihren Sohn und handelt sich großen Ärger ein. Sie führt einen tief ans Herz gehenden Dialog mit einem US-Soldaten, der gerade aus dem Irak kommt. Sie verweist eine Frau, bei der sie während des Abtastens spürt, dass sie gar keine Frau ist, zum Durchsuchen nicht an ihren männlichen Kollegen, um sie nicht zu kompromittieren. Verzweifelt versucht sie, wie sie es im Kleinen Schicht für Schicht probiert, auch den großen, ehemals starken Simon zu retten. Und scheitert. Es ist wirklich etwas in seinem Kopf und irgendwann hält er es nicht mehr aus …

Annette steht wieder an der zentralen Kontrollstelle, Terminal 1, Halle B. Und wünscht sich:

„Ich würde den Menschen gerne etwas anderes mitgeben als den Schmutz der anderen, den sie mir mitbringen … Ich glaube, dass die internationale Luftsicherheit durch weltweites Handauflegen der Fluggastkontrolleure verbessert und die Terrorgefahr vermindert werden könnte.“

Das Buch, von Elke Heidenreich einen „guten deutschen Roman aus der Arbeiterwelt“ genannt, ist viel mehr als das. Annegret Held lässt einen beim Lesen hören, riechen, sehen und mitfühlen, ihre Sprache ist das Ausdrucksvollste, was mir seit langem in die Hände gefallen ist. Näher dran geht nicht.

Annegret Held
Fliegende Koffer
Eichborn € 19,95
ISBN 978-3-8218-5732-9

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