Starkes Fräulein

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Prof. Pu empfiehlt BibliotheksliebhaberInnen: Frl. Stark
Nein, es ist nicht zwingend, daß Menschen, die in Bibliotheken arbeiten, auch Bücher lesen, deren Handlung an solchen Orten spielt. Aber eine gewisse Affinität besteht schon und so war die Neugier doch groß, als ich anfing, „Frl. Stark“ von Thomas Hürlimann, zu lesen.

„Das Paradies habe ich mir immer wie eine Art Bibliothek vorgestellt.“

Der Ausspruch von Jorge Luis Borges passt nahezu perfekt auf die Erzählung. Nepos Katz, zwölf Jahre alt, wird den Sommer über von seinen Eltern zum Onkel abgeschoben. Der ist Bibliothekar in der barocken Stiftsbibliothek St. Gallen und begrüßt alle Besucher mit dem Satz:

„Am Anfang war das Wort, dann kam die Bibliothek und erst an dritter Stelle kommen wir, wir Menschen und die Dinge.“

Der Neffe erhält, wie Onkel Josephus Katz es ausdrückt, einen Posten: Er wird „Pantoffelministrant am Portal zur Bücherkirche“ und muß den Busladungen vor allem weiblicher Besucher die Filzpantoffeln überstreifen, damit sie den kostbaren Holzboden nicht zerstören. Dabei entwickelt der pubertierende Junge eine Sinnlichkeit, die ihm Augen und vor allem Nase übergehen lassen …

Er ist glücklich über seinen Tagesablauf: Essen, Busse, Pantoffeln, Essen, mit dem Onkel lesen, Handschriften streicheln, mit Seidenhandschuhen an den Händen, die sich anfühlen „wie die Dessous meiner Mutter“, und dann schlafen. Wäre da nicht als moralische Instanz Frl. Stark, die Haushälterin des Monsignore Katz. Sie verpetzt den Neffen mehrfach, er verstoße gegen das 6. Gebot, „unkeusche Blicke“. Sie probiert mit Streikversuchen den Onkel dazu zu kriegen, ihm den Pantoffeldienst wegzunehmen.

Der jedoch betrachtet die Entdeckungsreisen des Jungen in die Welt der Frauen eher schelmisch, mit hochgezogener Augenbraue. Bis sie Nepos erwischt, als er mit einem Handspiegel versucht herauszufinden, was sich unter den Röcken verbirgt. Er verspricht ihr unter Tränen, ein guter Mensch zu werden. Am Ende des Sommers wird er in die Klosterschule Einsiedeln gehen müssen, bis dahin muß er es schaffen. Und er quält sich.

Was ihn auch noch quält, sind die kryptischen Bemerkungen Frl. Starks über seine Herkunft. Er beginnt, Ahnenforschung zu betreiben, die Bibliothekare sind ihm hinter dem Rücken seines Onkels behilflich.

Stück für Stück findet er die Lebensgeschichte seines Großvaters heraus. Vom Briefträger zum Seidenfabrikant, nach Konkurs dann Bademeister, verschwiegene jüdische Abstammung, zum Katholizismus konvertiert. Dieser Seitenstrang der Novelle hat Hürlimann den Vorwurf des Antisemitismus eingetragen, stellt er doch aber nur den Muff, die Spießigkeit und katholische Verklemmtheit der Schweiz in den Sechziger Jahren dar.

Am Ende des Sommers macht sich Nepos auf den Weg in die Klosterschule. Gut ausgestattet mit einer Brille, seiner ersten geklauten Zigarette und vielen handgestrickten Socken von Frl. Stark. Er hat die Vorschule der Erotik bestanden.

Er wird sich aber weiterhin fragen müssen:

„Wer bin ich – und weshalb bin ich, wie ich bin?“

Die stark autobiografische Erzählung läßt den Leser für einige Stunden in eine wundersame Welt abtauchen. Und das ist doch genau das, was man sich von einer Lektüre erhofft – gefangengenommen zu werden von schöner Sprache, schönen Bildern und einer augenzwinkernden Handlung. Hürlimanns Onkel ließ sich übrigens zu einer zehnseitigen Erklärung gegen die bösartigen Unterstellungen hinreißen …

Thomas Hürlimann
Frl. Stark
Fischer-Taschenbuch, 8,95 Euro

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