Gestrandete Goldgräber

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Podcast 27
M. John Harrison: „Licht“

Als Science Fiction-Leser habe ich ja eine gewisse Erwartungshaltung – unbewusst geprägt von Jules Verne bis Star Trek. Aber auch und gerade das völlig Unerwartete, Überraschende, Absonderliche, Groteske kann mich begeistert vor sich hertreiben. Wenn ich bei meinem Lieblingsautoren Iain Banks etwas gelernt habe, dann das. So erging es mir bei „Licht“ von M. John Harrison – der übrigens von Iain Banks überschwänglich gelobt wird:

„Harrison hat sich enorm weiterentwickelt. Er bringt eine viel tiefere Einsicht und bemerkenswert mehr literarische Reife mit für die Herausforderung einer oder zwei Generationen von SF-Schriftstellern, die von seinen frühen Werken inspiriert wurden, zu zeigen, wie es gemacht werden sollte.“

Um die vielen Literaturbezüge und um die Bedeutung des Romans für das Genre soll es hier aber gar nicht gehen – nur um die Geschichte selbst. Der Leser findet sich gleich auf zwei Zeitebenen wieder: 1999 verfolgen wir den Physiker Michael Kearney durch London und die Vereinigten Staaten. Eigentlich versucht er mit seinem Kollegen Brian Tate einen voll funktionstüchtigen Quantencomputer zu entwickeln. Aber während Tate bei seiner Arbeit immer unerklärlichere Phänomene beobachtet, ist Kearney meistens auf der Flucht vor dem „Shrander“. Vor diesem Dämon mit Pferdeknochenkopf hat er eine tödliche Angst. Lange Zeit habe ich ihn als Leser für einen Rachedämon gehalten, der Kearney für seine Sünden bestrafen will. Denn der Physiker ist ein Frauenserienmörder:

„Er […] zog sie in einen menschenleeren Raum, in dem zwei oder drei Billardtische standen, und tötete sie so rasch, wie er all die anderen getötet hatte.“

Erst sehr spät löst Harrison das Geheimnis des „Shranders“ dann tatsächlich auf. Auf der zweiten Ebene befinden wir uns im Jahr 2400. Es gibt so genannte „neue Menschen“ – Außerirdische, die sich nichts sehnlicher wünschen, als zu leben wie Menschen. Es gibt Gen-Schneider, die mithilfe genetischer Manipulationen fast jede humanoide Erscheinungsform möglich machen. Es gibt so genannte „Twinks“: Menschen, die in Tanks liegen und über Datennervenleitungen ein virtuelles Leben gegen das wirkliche eingetauscht haben. Ein solcher Twink ist Ed Chianese – er wird unsanft aus seiner 1930er Jahre-Fantasie gerissen, findet bei den neuen Menschen Unterschlupf, wird gejagt, tötet, liebt und landet schließlich in einem Zirkus. Und als wäre das alles nicht genug an Verrücktheiten, wird er hier zu einem wirklichen Wahrsager ausgebildet.

Eigentlich war Chianese eine Art Extremsportler. Seine Leidenschaft: den „Strand“ erkunden. Der Strand – ein Bereich der Galaxis, der allen Regeln der Physik spottet. Hier treibt sich auch Seria Maú Genlicher herum. Sie musste gewissermaßen ihre Menschlichkeit aufgeben, um Pilotin eines K-Schiffes zu werden. Sie liebt den Strand:

„Sie mochte die zottigen Ränder des Trakts, den jedermann den Strand nannte, wo die zerfressenen uralten vormenschlichen Obervatorien ihre chaotischen Orbits woben, Instrumentenplattformen und Laboratorien, vor Jahrmillionen von Wesen aufgegeben, die vielleicht keine Ahnung mehr hatten, wo sie waren oder woher sie kamen. Sie alle hatten sich den Trakt näher besehen wollen. Einige hatten ganze Planeten in Position gebracht und waren dann verschwunden oder ausgestorben. Manche hatte ganze Sonnensysteme hierher bugsiert, um sie dann sich selbst zu überlassen.“

Die Menschen begeben sich in dieser gefährlichen Region immer wieder wie Goldgräber auf die Suche nach technischen Artefakten, die sie kaum verstehen und die sie dennoch versuchen zu beherrschen. Zum Beispiel die K-Schiffe mit ihrer lebendigen Mathematik, die als gruselige Schattenoperatoren durch die Schiffsflure geistern. Lange Zeit war ich viel zu geblendet von der ausschweifenden Fantasie des Erzählers Harrison, um mich überhaupt zu fragen, was diese drei Schicksale in zwei unterschiedlichen Zeiten miteinander zu tun haben sollen. Aber dann tauchen Verknüpfungen auf, immer mehr, immer rätselhafter und tatsächlich gelingt es Harrison, die Fäden zusammenzubringen und dem Durcheinander aus Klängen und Geräuschen am Ende eine Harmonie vor der prächtigen Kulisse des Strands zu entlocken.

Mein Fazit: großes SF-Kino mit einer ungewöhnlichen Bandbreite – von der kranken Psyche eines paranoiden Verbrechers, über abenteuerliche Schicksale in einer aufregenden Zukunft bis hin zu den Intrigen völlig fremder Lebensformen. Und auf jeden Fall eine Geschmacksfrage, denn die wirren Ränkespiele des Erzählers und die absurden Elemente sind bestimmt nicht jedermanns Sache. Meine allerdings schon.

Links

Iain Banks bespricht den Roman für den Guardian – und er weiß, von was er spricht. Michael Matzer stürzt sich in die Details und ist der Auffassung, dass sich die schwierige Lektüre lohnt. Was der Roman bei genauer Analyse mit Quantentheorie, Antieskapismus, Trostlosigkeit und anderen Science Fiction-Romanen zu tun hat, erklärt Dietmar Dath. Eine Übersicht verschiedener Rezensionen bei feministische sf. Harrisons Homepage und sein Blog. Eine Werkübersicht gibt es bei der Phantastik-Couch. Die Fortsetzung von „Light“ heißt „Nova“ und ist im August 2007 in Deutschland erschienen, sonst gibt es immerhin noch „Die Centauri-Maschine“ zu kaufen. Eine Nova-Kurzkritik gibt es bei Otherland-Berlin und eine richtig gute Novakritik bei fantasyguide.

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