Kurt Tucholsky ist mir immer noch der Liebste. Seine Erzählungen sind mir präsent, so als hätte ich sie in meinem sonst so löchrigen Hirn für die Ewigkeit abgelegt. Wenn ich dann so wie jetzt wieder einmal auf die Exponate schaue, die aus seinem Leben, seiner Hand stammen, fliegen mir unsortiert bunte Bilder aus seinen Büchern durch den Kopf. Tucholsky zwinkert mir aus der Vitrine wissend zu.
Seit das Literaturmuseum der Moderne in Schillers Geburtsstadt Marbach am Neckar im Juni 2006 eröffnet hat, bin ich bereits viele Male hier gewesen. Der Bau des britischen Architekten David Chipperfield schmiegt sich an die Schillerhöhe und ist schon für sich ein Meisterwerk. Was aber der Betonbau mit den klaren Formen und der schlichten aber edlen Ausstattung in seinem Innern bewahrt, ist das eigentlich Bedeutsame. Hierfür lohnt sich immer und immer wieder ein Besuch. Denn hier ruht nicht etwa die Geschichte der modernen deutschen Literatur – hier lebt sie.
Die Beleuchtung in den Glas-Vitrinen, die in langen Reihen durch den hohen Raum aufgestellt sind, verbreiten eine geheimnisvolle Atmosphäre. Die Besucher bewegen sich schweigend wie Schatten durch die Gänge. Abgeschirmt hinter Glas liegen die größten Kostbarkeiten und erzählen den Vorbeigehenden ihre Geschichten. Würde man die Ausstellung vertonen, es wäre eine große, wilde Symphonie.
Mehrheitlich liegen hinter dem Glas Schriftstücke, Aufzeichnungen, Entwürfe für einen neuen Roman, Briefe an Kollegen und Freunde. Auch einige ungewöhnliche Devotionalien haben den Weg aus den Archiven tief im Keller hierher gefunden. Thomas Manns Taufhemd etwa oder eine Schere von Hans Georg Gadamer.
Von Tucholsky liegt ein Notizbuch in der letzten Reihe ganz links. Bleistift auf vergilbtem Papier, eine feine Handschrift, ausgeprägte Buchstaben. Flüchtig hingeworfene Gedanken für die Ewigkeit. Immer wieder stoße ich beim Schlendern durch die Gänge auf Erinnerungsstücke des Autors von „Rheinsberg“, „Schloss Gripsholm“ und „Walter Hasenclever“.
Mit Tucholsky im Schlepptau wandere ich an Handschriften von Kafka, Döblin und den Manns vorbei. Das Lächeln von Mischa Kaleko strahlt mir von einer Fotografie entgegen. Ich wundere mich, dass ich noch nie ein Buch dieser Frau in Händen gehalten habe – und das, obwohl sie mit Kurt Tucholsky befreundet war.
Hier etwas Vertrautes, da Neues. Das Literaturmuseum der Moderne gibt viel Privates preis. Das Wissen, dass in den Archiven unter dem nebenan gelegenen Deutschen Literaturarchiv noch Berge an zum Teil noch nicht gesichteten Nachlässen schlummert, erhöht den Reiz der Ausstellung. Man ist dem Geheimnis auf der Spur, bei jedem Schritt.
Doch was wird in nicht allzu fernen Zukunft von den zeitgenössischen Schriftstellern in den Vitrinen einen Platz finden? USB-Sticks und digitale Notizbücher? Wehmut ist unangebracht. Wer durch die Gänge entlang der Memorabilien moderner deutscher Literaturgeschichte schreitet, der sieht bereits den Wandel und erfährt die Gewissheit, dass auch die zukünftigen Autoren ihre Spuren hinterlassen werden.
Links
Die offizielle Website des Literaturmuseums der Moderne, liebevoll LiMo abgekürzt – klingt ein bisschen nach dem New Yorker MoMA (Museum of Modern Arts). Und hier noch ein Grund für einen Ausflug nach Marbach: