Prof. Pu empfiehlt: „Quasikristalle“ von Eva Menasse
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Was macht ein Leben aus? Die Summe der Beziehungen, der Ereignisse, der Leistungen, der Orte, an denen man lebt? Was bleibt am Ende? Was würde man über sich schreiben? Was über die anderen?
Eva Menasse hat sich eine ganz besondere Erzählform ausgedacht für die Romanbiografie ihrer Roxane Molin, Wiener Mittelstands-Tochter, schätzungsweise in den Neunzehnhundertsechziger Jahren geboren. In dreizehn Episoden schildert sie deren Leben, immer aus eine anderen Sicht. Mal erzählt sie neutral, mal aus der Ich-Perspektive einer Person, die viel oder nur am Rande, in einem kurzen Lebensabschnitt, mit Xane zu tun hat. Einmal kommt Xane auch nur als Namenlose vor, die durch das Bild läuft.
Es beginnt mit dem Sommer der Vierzehnjährigen, sie ist zum ersten Mal verliebt, als eine ihrer Freundinnen ganz plötzlich stirbt. Kurios die Episode, als sie mit einem merkwürdigen Geschichtsprofessor und einer Besuchergruppe nach Auschwitz fährt. Erst sehr viel später, durch eine Geschichte aus der Sicht ihres Vaters, erfährt man ihre Beweggründe. Typisch-spießig die Geschichte ihres Vermieters, der alles genau beobachtet, auch das Zu-Ende-Gehen ihrer Beziehung zu einem Künstler.
Manchmal saß sie die Tage über lesend am Balkon, mitten unter der Woche. Ab und zu ließ sie das Buch sinken und zeichnete etwas in ein großformatiges Heft. Er hatte oben am Dachboden eine kleine Spiegelscherbe, mit dem man auf ihre beiden Balkone blinzeln konnte.
Xane zieht von Wien nach Berlin, heiratet Mor, einen Professor. Sie trifft dort die Schwester ihrer Jugendfreundin wieder und mischt sich auf unangenehme Weise in deren Leben ein. Aus der Sicht einer Ärztin erfährt man von ihren angestrengten und anstrengenden Versuchen, schwanger zu werden. Etwas später läßt sich die ältere Tochter des Ehemannes über Xane als unerträgliche Stiefmutter aus. Ein romantisch-trauriges Kapitel lang verliebt sie sich in einen älteren Politiker, der am Internationalen Strafgerichtshof arbeitet. Sie kommen nicht zusammen, erst am Ende taucht sein Name in einem Brief ihres Sohnes noch einmal auf.
Am meisten erfährt man über Xane in den Erzählungen, die sie nicht gerade in einem guten Licht erscheinen lassen. Ein Angestellter und eine ihrer Freundinnen ziehen über sie her, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Auch ihr eigener Bericht, mitten in der Midlife-Krise, schonungslos.
Frauen haben ein Ablaufdatum. Männer nicht. Das läßt sich beweisen. Zum Beispiel damit, dass Männer auf Kontaktanzeigen mindestens zehn Mal so viele Zuschriften bekommen. Mor will das nicht verstehen; es gäbe ungefähr gleich viele Männer wie Frauen.
Xane wird nicht zu den, wie sie selbst sagt, „älteren, gebildeten, sogenannten starken und schwer vermittelbaren Frauen“ gehören. Sie und Mor bleiben zusammen. Den Tod ihres Mannes läßt Menasse von einer Frau vom Balkon aus beobachten, in einer sehr bizarren, in der Zukunft liegenden Geschichte, die den auf uns zukommenden Pflegenotstand schildert. Am Ende, erzählt in Briefen ihres Sohnes an sie, wagt Xane, sie müßte auf die Siebzig zugehen, noch einmal eine Veränderung.
Menasse hat mit diesem Roman die Erzähltechnik ihres zweiten Buches, „Läßliche Todsünden“, noch verfeinert. Sie hat ein großes buntes Mosaik geschaffen mit ihrer fiktiven Biografie – ein ganzes Leben mit vielen zeitgeschichtlichen Aspekten – in ihren verschiedenen Erzählstilen und einer wunderbaren Liebe zum Detail. Bewundernswert, wie sie auf die Entwicklung nur kleinster Dinge achtet – anfangs schämt sich Xane beim Lachen ihrer Zähne, später lacht sie mit weit geöffnetem Mund – allein so etwas fasziniert. Sie hat die Entwicklungen und Veränderungen, die mit dem Älterwerden einhergehen, wunderbar herausgearbeitet. Man könnte jede Geschichte einfach nur für sich lesen, das Gesamtbild, dass man Ende vor Augen hat, ist farbenprächtig und beeindruckend. Und doch ist es nur die Summe von subjektiven Beobachtungen, wie das Leben an sich. Ein Roman mit Lang-Nachdenkzeit-Wirkung.
Text und Podcast stehen unter einer Creative Commons-Lizenz.
Quelle: Petra Unger/SchönerDenken
Eva Menasse
Quasikristalle
Kiepenheuer & Witsch € 19,99
978-3-462-04513-0