Wie ein Bild im Entwicklerbad

Prof. Pu empfiehlt: „Neun Erzählungen“ von J. D. Salinger

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Mit diesem Buch habe ich gleich auf mehreren Ebenen gerungen. Erstens ist es ein geliehenes Buch, das schon viel zu lange auf dem Nachttisch liegt und mir ein schlechtes Gewissen gegenüber seinem Besitzer bereitet. Zweitens hatte ich seit der 11. Klasse keinen Salinger mehr in der Hand gehabt –  „ Der Fänger im Roggen“ hat mir damals gar nicht gefallen. Und drittens möchte ich hier auf keinen Fall mit Götz konkurrieren …

Doch Salinger dem Vielgelobten zu Ehren habe ich gleich einen Tag nach seinem Tod mit dem Erzählband begonnen. Skeptisch war ich zu Beginn, die vielen Artikel über ihn im Hinterkopf, verstellten mir anfangs den Blick und verunsicherten mich auch. Aber warum sich eigentlich nicht unvoreingenommen an die Kultfigur heranwagen? Ich kann das Faszinosum, das von diesen Erzählungen ausgeht, auch nach Beenden der Lektüre nicht erklären, das überlasse ich lieber den eingefleischten Fans und Fachleuten. Aber fasziniert war ich schon irgendwann, manchmal sogar erst Stunden später, wenn ich eine Geschichte Revue passieren ließ.

Neun Erzählungen

Nicht alle Erzählungen haben mir gefallen, mit „Der lachende Mann“ konnte ich gar nichts Richtiges anfangen. „Ein herrlicher Tag für Bananenfisch“ dagegen fand ich beeindruckend aktuell. Es ist im Grunde egal, um welchen Krieg es sich handelt, egal, ob man damals, als Salinger seine Erzählung über Seymour Glass schrieb, einen Namen für das Posttraumatische Belastungssyndrom hatte oder nicht. Seymour Glass, der vom Strand kommt und sich eine Kugel in den Kopf jagt, steht für mich zeitlos für alle zurückgekehrten Soldaten, die mit der Welt nicht mehr klar kommen.

Bei „Onkel Wackelpeter aus Connecticut“ schien mir plötzlich, als sei Salinger der Pate für alle „Desperate Housewives“, lauscht man den verzweifelten Dialogen von Mary Jane und Eloise; Dialogen, in denen die eine der anderen eigentlich gar nicht richtig zuhört und man sie schütteln möchte. Lange musste ich auch über das Ende von „Hübscher Mund, grün meine Augen“ nachdenken, als der betrogene Ehemann sich am Telefon bei einem Freund ausweint, nicht ahnend, dass seine Frau neben eben genau diesem Freund liegt. Auch die Art und Weise, wie er Kinder beschreibt, hat mich sehr beeindruckt. Lionel in „Unten am Boot“ zum Beispiel. Oder der kleine Charles mit seinem Lieblingswitz:

„Was hat die eine Wand zur anderen Wand gesagt?“
Sein Gesicht leuchtete auf. „Ich treff dich an der Ecke!“ kreischte er und stürzte aus der Teestube, vermutlich von Lachkrämpfen geschüttelt.

Er muss Kinder sehr gut studiert haben. Salingers Geschichten haben eine Nachwirkzeit, nein, sie entwickeln sich erst nach der Lektüre, so wie man früher in der Dunkelkammer zusah, wenn ein Bild im Entwicklerbad langsam erschien. Manchmal wollte ich schon aufgeben, wie bei „Esmé mit Liebe und Unrat“, um dann auf einen Satz zu stoßen, der mich weitertrieb:

„Vater sagte immer, ich hätte überhaupt keinen Sinn für Humor, und deshalb sei ich nicht gut für das Leben ausgerüstet, weil es mir an dem nötigen Humor fehle.“
Während ich mir eine Zigarette anzündete, beobachtete ich sie und sagte, ich glaube nicht, dass Sinn für Humor einem aus einer richtigen Klemme helfen könne.
„Vater hat gesagt, es hilft einem.“

Es sind keine sensationellen Handlungen, eher kleine Episoden über Alltagsmenschen oder wie Ulf Erdmann Ziegler am 30.1.2010 in der Tageszeitung sagt: „Seine Figuren waren leicht wie die Eisläufer im Park, mit tonnenschweren Problemen am Hals.“ Ich glaube, eine ungefähre Ahnung bekommen zu haben, was Salinger ausmacht …

J. D. Salinger
Neun Erzählungen
rororo-Taschenbuch € 7,95
978-3-499-11069-6

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