Die sechs Leben einerunvergessenen Vergessenen

Hendrik liest Mascha Kaléko. Biografie von Jutta Rosenkranz … und daraufhin auch seine Lieblingsgedichte von Kaléko wieder.

Eine Katze hat neun
Ich brachte es auf fünf
Das erste war keines
Aber das zählt fast doppelt [Das sechste Leben]

Ihrer eigenen lyrischen Zählung zufolge hatte sie zuletzt sechs Leben durchlebt: die 1907 als Golda Malka Aufen in West-Galizien geborene Dichterin Mascha Kaléko, eine der leiseren Stimmen einer literarischen Generation, deren künstlerische Entfaltung von der geistigen Tollwut des Dritten Reiches fast erstickt worden wäre. Leise und unspektakulär, dabei jedoch alles andere als undramatisch: diese Attribute passen auf Kaléko selbst so gut wie auf ihr poetisches Werk.

Die Germanistin und Journalistin Jutta Rosenkranz zeichnet in der ersten ausführlicheren Lebensbeschreibung der jüdischen Autorin die Stationen ihres Lebens nach – und das ist gar nicht so einfach bei einer Frau mit so vielen verschiedenen Heimaten in politisch unruhiger Zeit.

Die älteste Tochter eines jüdischen Kaufmannes russischer Staatsangehörigkeit erfuhr schon früh, dass eine Heimat haben zu dürfen ein Privileg war, das zu Beginn des 20 Jahrhunderts nicht jedem zugestanden wurde. 1914 siedelt die Familie nach Deutschland über, zunächst nach Frankfurt am Main, später nach Marburg, nach dem Ende des 1. Weltkrieges nach Berlin. Dort wird die junge Frau zu Beginn der 30er Jahre mit ihren dem Alltagsleben entnommenen, frech-weisen Versen gerade als Autorin bekannt – ihr „Lyrisches Stenogrammheft“ ist jahrelang das nach Goethe meistverkaufte Gedichtbändchen deutscher Sprache –, als die Nationalsozialisten an Macht gewinnen. Sie heiratet Dr. Saul Kaléko, doch das Glück dieser Ehe währt nur wenige Jahre (allerdings behält sie den Namen zeit ihres Lebens bei). Als ihre im Grunde völlig unpolitische frühe Lyrik aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verboten wird, wandert sie mit ihrem zweiten Lebensgefährten, dem Musiker Chemjo Vinaver und dem gemeinsamen Sohn in die U.S.A. aus. Dort erleidet sie das Schicksal vieler Exilliteraten ihrer Zeit: da sie mit ihrer Kunst an den deutschsprachigen Kontext gebunden ist, findet sie für ihre Gedichte kaum noch Publikationsmöglichkeiten. Erst einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrt sie zeitweise nach Deutschland zurück.

Berlin, im März. Die erste Deutschlandreise,
Seit man vor tausend Jahren mich verbannt.
Ich seh die Stadt auf eine neue Weise,
So, mit dem Fremdenführer in der Hand.
Der Himmel blaut. Die Föhren rauschen leise.
In Steglitz sprach mich gestern eine Meise
Im Schloßpark an. Die hatte mich erkannt.[Wiedersehen mit Berlin]

Die Wiederanknüpfung an alte Erfolge gelingt Kaléko nur teilweise, und auch das Motiv der Heimatlosigkeit wird die Autorin lebenslang weiter begleiten.

Wenn ich ‚Heimweh‘ sage, sag ich ‚Traum‘.
Denn die alte Heimat gibt es kaum.
Wenn ich Heimweh sage, mein ich viel:
Was uns lange drückte im Exil.
Fremde sind wir nun im Heimatort.
Nur das ‚Weh‘, es blieb.
Das ‚Heim‘ ist fort. [Heimweh, wonach?]

1959 folgt sie ihrem Mann aus beruflichen Gründen in das damals noch junge Israel, merkt jedoch bald, dass dort ihre sprachbedingte künstlerische Isolation noch stärker ist als bereits in den U.S.A.. Auf ihren regelmäßigen Reisen, die sie nach Europa unternimmt, wird sie zum einen als unvergessene, geliebte Autorin von ihrer Lesergemeinde gefeiert, zum anderen gerät sie jedoch immer wieder in Konflikt mit einer nachgewachsenen Generation von Buch- und Literaturvermarktern, die sich längst der experimentelleren, neueren Nachkriegslyrik zugewandt haben. Dennoch ist Kaléko ungebrochen eine wichtige Stimme ihrer Generation, die nicht nur heitere Gebrauchslyrik verfassen, sondern auch Worte für die Greuel des Nationalsozialismus zu finden vermag:

Ich möcht in dieser Zeit nicht Herrgott sein
Und wohlbehütet hinter Wolken thronen,
Allwissend, daß die Bomben und Kanonen
Den roten Tod auf meine Söhne spein.

Wie peinlich, einem Engelschor zu lauschen,
Da Kinderweinen durch die Lande gellt.
Weißgott, ich möcht um alles in der Welt
Nicht mit dem Lieben Gott im Himmel tauschen.
(…) [Verse für keinen Psalter]

Im Juli 1968 stirbt überraschend der einzige Sohn Kalékos, und von diesem Schlag erholen sich die Eltern nie mehr. Der ohnehin bereits schwerkranke Chemjo Vinaver kann seine Frau Mascha auf ihren letzten Europareisen nicht mehr begleiten. Er stirbt 1973, sie bleibt allein zurück. Bereits 1944 hatte sie genau davor Angst gehabt und jenes Gedicht verfasst, das heute als eines bekanntesten Kalékozitate gelten kann, obwohl viele den Namen der Verfasserin gar nicht kennen:

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
(…)
Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben. [Memento]

Von eigener Krankheit und Depressionen heimgesucht, arbeitet Kaléko bis zuletzt sowohl an der Vollendung des Lebenswerkes ihres Mannes – einer Anthologie Chassidischer Synagogalmusik – als auch an der Neuverlegung und Erweiterung ihres eigenen Oeuvres. Sie stirbt im Januar 1975 in Zürich an Magenkrebs.

Ihre drei wohl wichtigsten Bücher – „Lyrisches Stenogrammheft“, „Verse für Zeitgenossen“ sowie „In meinen Träumen läutet es Sturm“ werden wieder und weiterhin gedruckt und verorten die Poesie Kalékos (da bin ich mir – ich glaube, das allererste Mal – auch mit Herrn Reich-Ranicki einig) gleichwertig neben der von Tucholsky, Ringelnatz und Kästner.

Dem Leben hinter der schlichten, aber keineswegs trivialen Lyrik Kalékos hat die Autorin Jutta Rosenkranz in nachgelassenen Briefen und Zeitzeugenberichten nachgespürt und es in einer Weise zu Papier gebracht, die – so drückt es der Bonner General-Anzeiger treffend aus – „mit dem so leichtbeschwingten Oeuvre der Portraitierten in wunderbarem Einklang steht“. Es ist eine Biografie, die weder banalisiert noch verherrlicht und so ein sehr ehrliches persönliches Kennenlernen der Frau hinter den heiter-melancholischen Gedichten gestattet, und für die die Leichtfüßigkeit ihrer Poesie oftmals hart erkämpft war.

Für alle, welche die Lyrik Kalékos nicht ohnehin schon durch ihr Leben begleitet, ist dies eine schöne Gelegenheit, Kaléko selbst behutsam als eine Vertraute zu gewinnen, die man nur vermeintlich nicht mehr persönlich treffen kann, um mit ihr zu lachen und zu weinen, nur weil sie seit 33 Jahren tot ist. Denn es gibt kaum lebendigere und persönlichere Poesie in deutscher Sprache zu entdecken als die ihre: darin hat Kaléko ihr siebtes Leben gefunden.

Die Mascha Kaléko-Biografie von Jutta Rosenkranz erschien bei dtv, die Werke Kalékos erscheinen u.a. bei dtv und rororo.

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