Eine Adventsgeschichte! SchönerDenken proudly presents „Severins Sehnsucht“ von Bettina Fächer – in drei Teilen, gelesen von der Autorin höchstpersönlich.
Folge 650
Bettina Fächers SEVERINS SEHNSUCHT Teil 1
Theater, Busbahnhof, Kaufhauseck. Der Markt, der Dom, die Ludwigstraße. Theater beleuchtet, Busbahnhof düster, Kaufhauseck leer. Der Markt belebt, der Dom stumm, die Ludwigstraße … schon vorbei … Theater. Busse, Kaufhaus, Marktbuden …
Gerne würde Leonie den Blick senken. Doch noch ist nicht Feierabend. Den Rücken gerade halten, die glatten, rundlichen Arme leicht ausbreiten, das Kinn schön hochgereckt. Noch leuchten die Kerzen-Glühbirnen, noch drehen sich die Terrassen auf fünf Ebenen in vollem Schwung.
Um diese Zeit ist ihr meist schon etwas übel. Zuckerwatte-Schwaden und Glühwein-Dünste, die sich mischen und seit dem Nachmittag zu ihr heraufziehen – immer noch intensiv, obwohl sie auf ihrer hölzernen Plattform weit oben in der Pyramide hoch über den Ständen kreist. Am Eingang zum Weihnachtsmarkt spielt ein Mann auf einer abgeschabten Geige Sinti-Jazz.
Acht Glockenschläge vom Dom – eine halbe Stunde noch, dann endet dieser Dienstag, und die Betreiber werden ihre Buden mit Brettern für die Nacht verschließen. Zum Glück ist ihr wenigstens nicht mehr permanent schwindelig – so wie in den ersten Tagen, als sie sich noch nicht an die Karussell-Bewegung unter dem Flügelrad gewöhnt hatte.
Trotzdem denkt Leonie gerne an die Tage um den ersten Advent zurück. An die Mischung aus Schwindel und Herzrasen, die innere Unruhe – und die noch frische, ganz präsente Erinnerung an ihn. So oft hat sie mittlerweile an ihn gedacht, dass es ihr vorkommt, als betrachte sie ein Bild, das langsam zerfleddert und vergilbt.
Ihre erste Begegnung hatte nicht lange gedauert. Nur einige Minuten hatten die Arbeiter sie in seiner Nähe abgestellt, und die ersten davon waren verstrichen, bevor er sie mit einer eher einfallslosen Bemerkung angesprochen hatte. Trotzdem war sie in den Tagen danach wieder und wieder ihr kurzes Gespräch durchgegangen. Was er gesagt, was sie geantwortet hatte.
Wie er gleich herausgefunden hatte, dass sie neu war, frisch gedrechselt und bemalt, zum ersten Mal dabei, vorgesehen für einen Platz hoch oben auf der zweithöchsten Terrasse der Pyramide, gleich unter dem Engelsorchester.
Wie er dann beiläufig ihre Aufmerksamkeit auf sein Aussehen gelenkt und ein wenig damit geprahlt hatte, wie sehr der Lack auf seinem leuchtend roten Mainz-05-Dress immer noch glänzte – und mit welcher Begeisterung die Marktbesucher, nicht nur die kleinen Jungen, ihn an seinem Stammplatz auf der untersten, ausladenden Plattform wieder bemerken und bewundern würden.
Auch wenn sein Nachbar dieses klobige, fette Mainzelmännchen war, dem hing ja die Brille ganz schief im Gesicht, sieht aus, als ob es schielt! Alle würden nur ihn, den eleganten Sportler, den echten Ball-Künstler, bewundern.
Leonie war nicht mehr dazu gekommen, ihm etwas zu erwidern. Die Arbeiter hatten sie aufgehoben und an ihren Platz montiert wie von Meister Ladislaus aus dem Erzgebirge vorgesehen. Mit kräftigen Händen in Arbeitshandschuhen hatten die Männer noch einmal alles kontrolliert, bevor der Autokran die gesamte Plattform hoch in die Luft gehoben hatte, leise schaukelte sie an dünnen Eisenketten, und die Arbeiter hatten sie am Ende, sich mit lauten Zurufen verständigend, sicher aufgesetzt.
Später hatte Leonie festgestellt, dass der junge Fußballer ihr nicht zu viel versprochen hatte. Wenn sie die Augen gesenkt hielt und den Kopf, soweit es ging, mit drehte – was zwar nicht vorschriftsmäßig war, aber niemand monierte –, dann konnte sie immer wieder beobachten, wie kleine Jungen auf die Pyramide zu rannten und aufgeregt riefen: „Papa, da ist auch Fußball!“ Und wie Erwachsene ihre kleinen Kameras hochhielten, um ein Foto zu machen.
In solchen Momenten ist Leonie froh, dass die Pyramide sich so schnell weiterdreht, damit ihr Blick wieder abgelenkt wird und sie vergisst, wie gerne sie selbst dort unten stünde, um ihm geradewegs in die Augen zu sehen. Endlich von hier oben loskommen. Nicht, um das Gezänke nicht mehr zu hören, wenn nebenan der Fastnachter mit der 11er-Laterne wieder mit dem dicken Kirchenmann streitet. Und auch nicht, um nicht mehr zu erschrecken, wenn der kleine Zappelphilipp aus dem Engelsorchester mit einem scheppernden “Tsching” oben unvermittelt die Becken aneinander knallt. Sie möchte nur weg, um den jungen Fußballer wiederzusehen. Um zu wissen, ob sie ihm etwas bedeutet. Und ob sie am Ende vielleicht Seite an Seite die vielen warmen Monate verbringen könnten, den ganzen Sommer durch und bis zum Winter, wenn wieder der Weihnachtsmarkt mit der großen Pyramide aufgebaut wird.
Ach, immer noch Geduld haben! Leonie zählt die Tage bis Weihnachten. Bis zu jenem vielleicht trüb-grauen Abend des 23. Dezember, an dem die Budenbetreiber in der feuchten Luft all ihre Lederwaren und Strohsterne einpacken werden, ihre Bonbon-Päckchen und riesigen Glühwein-Kochtöpfe, wenn noch in der Nacht Arbeiter die Holz-Buden zerlegen und wegbringen werden – und Leonie zum letzten Mal die Runde gedreht haben wird: Theater, Kaufhaus, Dom, Ludwigstraße …
Manchmal, wenn die Zweifel kommen, versucht sie, es an den großen Kerzen abzuzählen, die auf jeder Etage rund um die rotierenden Plattformen angebracht sind. Ich treff ihn, ich treff ihn nicht, ich treff ihn, ich treff ihn nicht, ich treff ihn … Wenn sie fest genug die stilisierten Kerzenflammen fixiert, bringt das Vorbeihuschen der Glühlampen und das monotone Zählen sie in eine Art Trance, die manchmal anhält, bis am Ende des Abends die Pyramide langsamer wird und zuletzt stehenbleibt zur Nachtruhe.
*
„Pssst, Leonie!“
Ein bisschen hat sie gedöst, ist noch benommen. Unten gehen drei Polizisten über den leeren Markt. Die großen Sterne aus Tannengrün, die man zwischen den Marktgassen aufgehängt hat, sind in der Dunkelheit kaum mehr als schwarze Schatten, die über ihren Köpfen schweben.
“Leonie …”
Ein blechernes Geräusch hilft ihr – nun schaut sie nach oben.
“Severin, schon wieder!”, sagt sie leise. Dann muss sie lächeln.
Es sieht doch immer seltsam aus, wenn der kleine Musiker kopfüber am Rand der Plattform hangelt. Die Hände am Holz festgekrallt, lässt er den Kopf hängen wie ein Kind im Stockbett.
“Was machst Du?”, fragt er. “Träumst Du?”
“Severin, kannst Du wieder nicht schlafen?”
Leonie versucht den strengen Blick.
“Pass auf, dass Du nicht eines Tages runtersegelst …”
“Wenn sie mich schon nicht richtig festgemacht haben.”
Der Schlagwerker aus dem Engelsorchester kichert. Er turnt ein wenig herum, lässt eines der Becken nach unten baumeln.
“Verlier bloß nicht Deine Instrumente”, sagt Leonie.
An der braunen Lederschnur schwebt das klingende Metall zurück nach oben wie ein umgedrehter Suppenteller. Ein leises Rumpeln. Dann erscheint wieder der Kopf.
“Leonie? … Erzählst Du mir was?”
“Was denn noch, Severin. Ich hab Dir alles schon beschrieben. Die ganze Werkstatt, was draußen vor dem Fenster zu sehen ist, welches neue Werkzeug Ladislaus jetzt hat und wie es dort riecht… Was denn noch? Hast Du immer noch Heimweh?”
Nicken von oben.
“Was vermisst Du denn am meisten?”, fragt Leonie.
“Ladislaus”, sagt Severin. Und dann noch leiser: “Und Annabell.”
*
Es sind zuerst Geräusche und Gerüche, die Leonie in den Sinn kommen – und sie zurücktragen ins Erzgebirge, in das kleine Dorf zwischen den Wäldern, in die Werkstatt von Meister Ladislaus. Das Surren der Drechselbänke, an denen Ladislaus und seine Gesellen die Werkstücke bearbeiten, und der unterschiedlich singende Ton, je nachdem, wie sie das Drechseleisen ansetzen und führen. Das Hämmern beim Anschlagen, wenn der Kandel, vielleicht ein zurechtgeschnittenes Stück Buchenholz, in der Drehbank befestigt wird. Sie sieht wieder die fliegenden Späne, die in weitem Bogen davonsprühen und die der Meister sich bisweilen von Front und Ärmeln seines Hemdes schüttelt, und fühlt den feinen Schmirgel-Staub, der bis in die letzten Ritzen zieht. Dann der Duft der Hölzer, bei jeder Sorte ein anderer – und Leonie weiß, dass Ladislaus Fichte am liebsten riecht.
Und dann im Nebenraum, in den man aus der Werkstatt durch eingesetzte Glasscheiben hinübersehen kann zu den beiden Malerinnen, wie sie sich über die Tische beugen, ihre Sinne längst unempfindlich dagegen geworden: der Geruch von Leim. Und die Lacke, manchmal so durchdringend, dass die beißenden Dünste durch den Verbindungsflur zum Wohnhaus ziehen, wenn Ladislaus die Werkstatt-Tür ein wenig offen stehen lässt, weil er etwas holen geht. Oder weil Annabell ihn zum Essen gerufen hat.
Geborgenheit spürt Leonie, das Gefühl kann sie auch jetzt noch wachrufen. Schließlich hat sie lange Monate dort verbracht, in der Werkstatt bei Meister Ladislaus, auf den Tischen und Regalen der Malerei, bevor er sie endlich verpacken lassen und weggeschickt hat. Armer Severin. Warm ist es da, weil Ladislaus dort lebt. Weil er diese Räume liebt und sich dort wohlfühlt. Und weil er alles um sich herum vergisst, wenn er sein Werkzeug in die Hand nimmt.
Früh im Jahr hat er die Arbeit an ihr begonnen. Den Körper Stück für Stück: den Rumpf fast wie ein umgedrehter Kegelstumpf, die Beine kurz und stämmig, die Arme gegliedert in zwei langgestreckte Ellipsen, die Hände zu Kugeln gerundet. Zuletzt der Kopf, die Stirnpartie breiter, die Oberseite flacher, kein Räuchermann-Zylinder darauf, kein Lichterengel-Hut, nur ein stolzes, bares Haupt.
Mehrmals hat Ladislaus die Drehschnur auf die Leerlaufscheibe gesetzt, um prüfend mit der Hand über sein Werk zu fahren, hat gestreichelt, gewischt, gefühlt – so als wüsste er ohne hinzusehen, wie sich die perfekte Rundung anfasst, wo steilere Krümmungen und wo flachere Bögen zu ertasten sein mussten. Wie der Weg der rauhen Innenhand und der Finger zu gehen hatte, wie sie über die Oberfläche gleiten mussten, damit genau das entstanden war, was er suchte.
Den Kopf hatte Ladislaus nicht den Frauen in der Malerei überlassen, sondern ganz behutsam selbst bemalt. Zwei Tupfen zunächst für die Nasenlöcher. Auch das Weiß der Augäpfel hatte er sorgfältig trocknen lassen, sich Zeit gelassen.
Und dann plötzlich weiter in einem Zug, an einem seltsamen Nachmittag im April, der vom konzentrierten Rhythmus seines Arbeitens in der Werkstatt abwich, lange Stunden hatte er die Mittagspause an diesem Tag ausgedehnt, erst viel später als sonst war er zurückgekehrt, das Hemd zerknittert und halb verrutscht. Mit plötzlichem Schwung hatte er sich in der Malerei einen Hocker an den Tisch am vorderen Fenster geholt, rasch ein Arbeitslicht angeknipst, hatte Bruchstücke einer Melodie gesummt und schnell, sehr schnell den Pinsel geführt, mit Meisterschaft und großer Sicherheit, die Augen mit einem Mal belebt, die Schwünge der Brauen gebogener als sonst, und der Mund mit genau der kleinen Asymmetrie, die nötig war, um der Schönheit, die Ebenmäßigkeit war, den richtigen Akzent hinzuzufügen. Und mit beständigem Murmeln und Alkohol im Atem hatte er zu ihr gesprochen: “… eine Schönheit, mein Kind, so zart, Du … Zauberhafte …”, bis er zu verhaltenem Pfeifen überging, wieder eine andere Melodie. Und er unterbrach erst, als er mit dem Haar fast zuende war – brünette kleine Wellen, die sich im Nacken kringelten und ausfransten – und als Annabell noch einmal nach ihm rief mit sanfter Stimme:
“Ladis, komm zurück …”
Behutsam stellte er den Kopf ab.
“Bis gleich, mein Kind, gleich wieder …”, sagte er und verschwand.
Erst am nächsten Vormittag kehrte Ladislaus zurück zu seinen Werkzeugen, und er kam gut voran in seiner Arbeit. Die Tage wurden wärmer, und so ließ er gerne das große Tor zum Hof offenstehen, das am anderen Ende der Werkstatt lag, und streckte manchmal, an einen Stapel Holz gelehnt, die Beine in die Sonne, wenn er eine Zigarettenpause machte.
Wenn der Mann vom Getränkehandel vorbeikam, um eine Sackkarre voller Bier- und Mineralwasser-Kästen abzuladen und an der Eingangstür des Wohnhauses zu läuten, grüßte er hinüber. Und wenn Annabell das Haus verließ, in engen Jeans, das lange, dunkle Haar mit einer kleinen Klemme seitlich am Pony festgesteckt, mit der eleganten Einkaufstasche am Arm hängend, und in den kleinen Corsa stieg, trat er neben die hohen Torflügel und sah ihr nach. Versenkte eine Hand in der Tasche seiner khaki-grauen Arbeitshosen, ballte eine Faust darin. Entspannte sie wieder. Förderte einen kleinen Filter zutage. Holte den Tabak aus der ärmellosen Weste, drehte sich eine Zigarette und ging dann ohne sie zu rauchen wieder an die Arbeit.
*
“Was denn nun, Leonie?”
“Ach, Severin. Ich hab grad wirklich ein bisschen geträumt.”
“Von dort?”, fragt er.
“Von der Werkstatt. Von Ladislaus … ”
“… und von Annabell? …. Ist sie immer noch so … toll?”, fragt Severin leise.
“Naja. Ganz gut sieht sie eben aus”, sagt Leonie gedehnt. “Gute Figur und so. So jung ist sie ja auch nicht mehr.”
“Tsss”, macht Severin gekränkt.
“Vielleicht ein bisschen zu schick für die Gegend”, fügt Leonie hinzu.
Severin rutscht ein wenig hin und her, auf dem Bauch versucht er, es sich bequem zu machen, legt die Unterarme wie ein Kissen unters Kinn, wenn er zu Leonie hinunter sieht.
“Sie ist eben was Besonderes”, sagt er trotzig.
“Träum weiter, Kleiner”, sagt Leonie. Und nach einer Weile: “Zumindest so besonders, dass sie nie in die Werkstatt kommt …”
“Was?” Severin hebt überrascht den Kopf. “Nein, gar nicht wahr!”
“Na, zu meiner Zeit zumindest”, schränkt Leonie ein.
“Doch, sie kommt oft. Sie kommt immer, um nach ihm zu sehen. Und er hat doch manche Figuren nur für sie gemacht. ‚Hier, ich schenk‘ Dir den kleinen Engel‘, hat er gesagt, als er mich fertig hatte. ‚Der ist mir der liebste. Kann für Dich spielen – da wird’s Dir nie mehr langweilig‘ …”
“Und was hat sie gesagt?”, fragt Leonie.
“Nichts. Komisch geschaut hat sie. Und dann hat sie mich da stehenlassen. Monatelang, auf dem vorderen Regal in der Malerei. Ganz schön zugig da. Aber sie kam öfters, um mich anzusehen. Spät am Abend, oder wenn Ladislaus mal unterwegs war. Manchmal hat sie mich ein bisschen angefasst, so mit dem Finger am Hemd gerubbelt. Und gesagt: ‚Du Kind‘. Weiß auch nicht, was sie damit gemeint hat …”
“Und sie haben sich nicht gestritten?”, fragt Leonie vorsichtig.
“Naja”, sagt Severin, “weiß ich doch nicht …”
*
Oh doch, denkt Leonie. Du weißt es. Aber vielleicht – vielleicht war das eine andere Zeit. Sie selbst hatte ja auch nicht gleich bemerkt, was da vor sich ging – zumindest nicht bis zu diesem einen Abend …
Der zweite Teil folgt morgen!
© Bettina Fächer