Prof. Pu empfiehlt: „Stein der Geduld“ von Atiq Rahimi
[display_podcast]
Wenn man ehrlich zu sich ist, verkommt Afghanistan im Alltag häufig doch eher zu einer Art Hintergrundgeräusch. Ob es Zufall war, daß ich mit dem Roman just an dem Tag begann, als dort die zehn ausländischen Helfer ums Leben kamen, sei dahingestellt. Sicher aber fiel mein Blick, angeregt durch die Lektüre, gezielt auf das Time-Magazine-Cover. Darauf zu sehen ist das Gesicht einer von ihrem Taliban-Ehemann schrecklich verstümmelten Frau. Dieses Foto verursachte, dass mir der Roman noch eindringlicher, noch näher ging als Rahimis klare und poetische Sprache allein.
Wie in einem Theaterstück mit genauesten Regieanweisungen erzählt er die Geschichte einer Frau, deren Ehemann, mit einer Kugel im Nacken, reglos auf seiner Matratze liegt. Die Augen weit geöffnet, erfährt man von ihm nichts als dass er atmet. Anfangs befolgt die Frau die Anweisungen des Mullahs, den ganzen Tag neben ihm auszuharren und zu beten. Nur wenn sie betet, würde er gesund.
Ihre linke Hand zählt noch immer die Perlen der schwarzen Gebetskette ab. „Ich kann dir sogar sagen, dass du in meiner Abwesenheit dreiunddreißig Mal eingeatmet hast.“ Sie kauert sich nieder. „Und selbst jetzt, während ich mit dir spreche, kann ich deine Atemzüge zählen.“ Sie hält die Gebetskette in das unbestimmte Gesichtsfeld des Mannes. „Hier, seit ich wieder da bin, hast du sieben Mal geatmet.“ Sie setzt sich auf den Kelim und fährt fort: „Ich teile meine Tage nicht mehr in Stunden ein, und die Stunden nicht mehr in Minuten, die Minuten nicht mehr in Sekunden … Ein Tag hat für mich neunundneunzig Runden auf der Gebetskette!“
Doch langsam wird ihr die Sinnlosigkeit des Unterfangens klar und sie beginnt zu reden. Während sie ihn mit Salzzuckerwasser am Leben erhält, erzählt sie ihm alles, worüber sie in den zehn Jahren ihrer Ehe geschwiegen hat. Mit siebzehn wurde sie in seiner Abwesenheit mit ihm verheiratet, erst nach drei Jahren kehrte er aus Kämpfen zurück. Sie schildert ihre unterdrückten Gefühle, gesteht ihm Geheimnisse aus ihrer Kindheit, macht ihm Vorwürfe, entschuldigt sich. Glaubt von einem Dämon besessen zu sein, fängt sich wieder, stellt sich der Realität und bringt ihre beiden Töchter in Sicherheit.
Denn draußen fallen Schüsse, fahren Panzer durch die Straßen, werden Häuser zerstört, Nachbarn getötet. Sie wird überfallen, bestohlen. Immer wieder verlässt sie zornig das Haus, man erwartet, dass sie nicht zu ihrem hilflosen Mann zurückkehrt. Doch sie muss ihre Geschichte zu Ende erzählen, alle Geheimnisse und Geständnisse vor ihm ausbreiten. Sie beginnt diesen reglosen Mann ihren „Stein der Geduld“ zu nennen. In der afghanischen Mythologie gibt es einen Stein, dem man alles erzählen kann. Eines Tages aber wird dieser Stein zerspringen, denn auch die Geduld eines Steins kann nicht unendlich sein.
Für mich hat dieses Bild des geduldigen Steines, der irgendwann einmal explodiert, noch eine weitere Bedeutung: Rahimis Protagonistin steht stellvertretend für die unterdrückten – steingeduldigen – afghanischen Frauen, gestern und heute. Das Ende des Romans ist drastisch, bitter, eindrucksvoll – zerspringende Steine. Ein eindringlicher Blick in eine für uns fremde Welt.
Atiq Rahimi hat für den Roman 2008 den Prix Goncourt, den höchsten französischen Literaturpreis, erhalten.
Atiq Rahimi
Stein der Geduld
Ullstein 18.- €
978-3-550-08786-8
Hier die Lesung des Autors auf Französisch: