Allgegenwärtiger, abwesender Vater

Jubiläumsfolge Nr. 50! Prof. Pu empfiehlt: Sturz durch alle Spiegel von Ursula Priess

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Eine Frau trifft sich mit einem Mann, den sie kaum kennt, mit dem sie bisher nur telefoniert hat, der ihr gefällt:

„Als zwischen den Säulen hindurch der Markusplatz wieder sichtbar wurde, ihre sekundenkurze Überraschung, dass sie ja in Venedig ist, mit ihm, dem großen fremden Mann; und ich sehe, wie sie sich nun von seinem Arm löst, über ein paar Stufen hinabspringt und sich zurückdreht, ihn anschaut, aus zwei Schritt Entfernung, verwundert über sich und über ihn, und sich plötzlich nicht mehr vorstellen kann, wohin das noch führen soll; dann aber lacht:
– Glücklicher Zufall, zufälliges Glück, beides in einem, das ist, was ich meine mit Kismet!
Worauf auch er lachte.
Und im Gehen schräg über den Markusplatz, seine Frage, warum ausgerechnet Istanbul, warum nicht woanders hin.
– Ich musste weg, weg aus Deutschland, aus persönlichen Gründen. Vielleicht erzähle ich Ihnen ein anderes Mal mehr davon – sie ging also bereits von einem weiteren Treffen aus! -, vor Istanbul hatte ich es bereits in Rom versucht.
Als sie Rom sagte, huschte etwas über sein Gesicht, das sie nicht deuten konnte und in seinen Augen sah sie ein seltsames Flackern – aber den hauchfeinen Riss in der noch immer sehr dünnen gemeinsamen Gegenwart übersprang sie.“

Lange dauert es nicht, nur wenige weitere gemeinsame Stunden in Venedig, bis der hauchfeine Riss zu einem Krater wird und den Mann für immer verschluckt.  Ursula Priess verliert ihre zarte Romanze in dem Moment, als sie ihm ihre Herkunft verrät: Sie ist die älteste Tochter Max Frischs. Der Mann ergreift regelrecht die Flucht vor ihr und wieder einmal steht sie vor Scherben, die ihr der gehasste, geliebte, verehrte und verletzende Vater auch noch nach seinem Tode beschert. War doch der Mann, mit dem sie sich vorsichtig etwas erträumte, zu Zeiten der Beziehung Max Frischs mit Ingeborg Bachmann sein Nebenbuhler:

„Max, der an seiner rasenden Eifersucht schier krepiert ist, Eifersucht ohne ein Gegenüber, Eifersucht auf Verdacht … Der Verdacht, dass er es ist – der Unfassbare, der Unsichtbare von damals – , auf den sie nun getroffen ist.
Und dass unversehens alles ineinander hängt und die Zukunft sich als Vergangenheit entpuppt.
Warum! Warum er! Warum unter den Millionen Männern Europas ausgerechnet er!“

Das traumatische Erlebnis veranlasste sie, dieses Buch zu schreiben, das einzuordnen schwer fällt. Autobiographie, Tagebuchaufzeichnungen, Rückblick auf eine hochkomplizierte Vater-Tochter-Beziehung, biographische Notizen über einen großen Schriftsteller, Abrechnung mit ihm und Liebeserklärung zugleich. Eine Bestandsaufnahme nennt sie ihr Werk im Untertitel. Eine Bestandsaufnahme ihrer Gedanken über eine allgegenwärtige und doch immer abwesende Vaterfigur. Sie springt zwischen den Zeiten, den Perspektiven, ihren Emotionen hin und her, was das Buch so lebendig und plastisch erscheinen lässt, dass es wie ein Filmporträt vor mir ablief. Auch sprachlich ist ein Hochgenuss. Und es berührt tief, erinnert an Bekenntnisse der Kinder und Enkel Thomas Manns, die sich in seinen Werken ungefragt wieder fanden:

„Nach Montauk dann Abbruch der Beziehung zum Vater; was hatte ich mit dem Mann zu tun – nur weil er zufällig mein Erzeuger war, muss ich noch lange nicht … Jetzt, beim Wiederlesen dieses Satzes: …. die schlichte Nachricht, daß ein Kind gezeugt worden ist, hat mich gefreut: der Frau zuliebe … sprang mich die Frage an, ob bereits damals alles begann.
Ein Freund, weder Pädagoge noch Psychologe oder ähnliches, sondern Künstler, der von meiner Vater-Tochter-Geschichte fast nichts wusste, fragte mich, als wir über den Film Max Frisch, Citoyen sprachen (in dem dieser Satz zitiert wird), ob meinem Vater die Ungeheuerlichkeit dieser Aussage eigentlich bewusst gewesen sei; oder wie er es gemeint haben könnte, ob als cooles oder ‚männliches’ Desinteresse an Familiärem oder wie sonst.
Ich musste gestehen, dass ich es nicht weiß, Max aber auch nie danach gefragt habe, wie er es gemeint habe – die Wirkung hingegen, das weiß ich, war verheerend.“

Sie leidet unter ihrem „Stellvertreterinnen“-Dasein, wird oft nur als Tochter wahrgenommen, auch lange nach seinem Tod. Sie stellt betroffen fest, dass er, der alles aufhob, die ihr wichtigen Vater-Tochter-Briefe nicht ins Archiv gegeben hat.

„Was mir bleibt: Staunen über die Hürden, die die beiden, Vater und Tochter, zwischen sich aufgebaut hatten. Und: Staunen über die Abgründe, die sich auftun beim Erinnern!“

Ein großartiges und berührendes Buch, das man mehrmals lesen muss, um alle seine Dimensionen und Zwischentöne zu erfassen – und meine alte Begeisterung für Frischs Werke neu aufleben und in einem anderen Licht erscheinen lässt. Und wer hätte gedacht, daß Frischs Lieblingsfilm „Easy Rider“ war …

Ursula Priess
Sturz durch alle Spiegel
Ammann 18,95 Euro
978-3-250-60131-9

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