Matthias über die bunte Welt der Fünfziger:
Schwarz-Weiß-Fotografien neutralisieren. Im Unterschied zur Farbfotografie erscheinen sie abstrakter und weniger emotional. Ein trügerischer Effekt: Die Zeiten vor dem Siegeszug der Farbbilder scheinen nüchterner oder weniger bewegt zu sein, aber das Gegenteil ist oft der Fall. Das relative Übergewicht der schwarz-weißen Bilder vor 1970 macht vergessen, dass Farbe in Foto und Film schon in den 30er Jahren Einzug gehalten hat.
Einer, der recht früh davon Gebrauch machte, ist der 1925 in Bonn geborene Josef Heinrich Darchinger. Nach Krieg und Gefangenschaft machte Darchinger eine Fotolaborantenlehre und wurde als Fotograf im Umkreis der deutschen Sozialdemokratie bekannt. Darüber hinaus arbeitete er für bekannte Blätter wie den „Spiegel“ oder die „Zeit“. Der Taschen-Verlag stellt nun einen Ausschnitt aus Darchingers umfangreichem Fotoarchiv vor. In zumeist farbigen Fotografien gewährt der Band einen unsentimentalen Einblick in die frühen Jahre der Bundesrepublik und in Grenzen auch der DDR.
Das Besondere an diesem dreisprachig in deutsch, englisch und französisch vorliegenden Band ist neben der Farbfotografie die dokumentarische Qualität des Gezeigten. In drei Kapiteln werden der Wandel von „Familienleben“, „Wirtschaft“ und „Politik“ gezeigt. Darchinger beobachtet scheinbar noch unangefochtene, aber bereits brüchig gewordene Rollenmodelle und Verhaltensweisen. Gleichzeitig machen diese Bilder deutlich, dass das legendäre Wirtschaftswunder keineswegs alle gleichmäßig und gleich schnell erreichte. Speziell in den 50er Jahren steht Ärmliches, ja Archaisches, etwa im Landleben, neben Hochmodernem wie der damals favorisierten autofreundlichen Stadt. Äußerliche Anzeichen von Gediegenheit wie Hut und Krawatte und das Einhalten von Verhaltenskonventionen machen vergessen, dass bürgerliche Konventionen und Anstand zwischen 1933 und 1945 mit Füßen getreten wurden. So haftet dem bieder erscheinenden Bienenfleiß der Aufbaujahre zugleich etwas Verlogenes an.
Dafür waren Darchingers Bilder nicht verantwortlich. Sie eignen sich wenig für einen verklärten Blick in eine scheinbar heile Welt. Vielmehr zeigen sie auch Armut, Kriegszerstörungen sowie die im Straßenbild unübersehbaren Kriegsversehrten. Die Bilder des Bonner Fotografen sind weder aufdringlich noch vordergründig kritisch, Eigenschaften, die sie qualitativ weit über so genannte engagierte Bilddokumente herausheben. Gleichwohl befremden die Bilder heute. Kleine Freiheiten jener Tage wie das allgegenwärtige Rauchen sind gegenwärtig in den Hintergrund getreten oder wurden in Nischen abgedrängt. Auch lassen die gelegentlich ins Bild gesetzten extremen Industrieabgase im Ruhrgebiet Gedanken an Nostalgie kaum aufkommen.
Manchmal scheinen die Schwierigkeiten durch, die Farbfotografie früher bereiten konnte. Längere Belichtungszeiten ließen manche bewegten Details verwischt erscheinen. Das erkennt man etwa an dem fahrenden VW Käfer auf dem Titelbild des Bandes. Aber diese Unzulänglichkeit ist gleichzeitig auch ein interessanter visueller Effekt, und ein so ausgezeichneter Fotograf wie Darchinger machte gewiss bewusst Gebrauch davon.
Viele Bilder aus der Arbeitswelt erscheinen fremdartig und vorgestrig, so zum Beispiel die seltsam improvisiert wirkende Produktionshalle des Kleinwagens Lloyd LP 400 – ein Gefährt, das der „Generation Golf“ wohl kaum noch vertraut sein dürfte. Darchingers Fotografien gewähren ein Blick zurück und sind somit nicht nur den damals Jungen zu empfehlen. Viele Sachverhalte, die heute leider nicht mehr allgemein bekannt sind, werden in Bildererläuterungen, Vorwort und der angehängten Chronik knapp erläutert. Kleine Fehler wie etwas im Hinblick auf den früheren hessischen Ministerpräsident Georg August Zinn, der einmal falsch als Hans Georg Zinn bezeichnet wird, fallen dagegen kaum ins Gewicht.
Klaus Honnef/Josef Heinrich Darchinger
Wirtschaftswunder.
Deutschland nach dem Krieg 1952 – 1967.
Taschen Verlag
ISBN 978-3-8365-0019-7
29,99 Euro