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„Ich habe fünf Jahre gebraucht, um dieses Buch zu schreiben – ein persönlicher Rekord.“,
sagt Charles Stross in der Danksagung. Und ich habe fünf Monate gebraucht, um dieses Buch zu lesen – auch ein persönlicher Rekord. Was für ein konfuser SF-Schinken: Mehr als 550 Seiten Familiensaga, Technikvisionen, Außerirdische, Konzepte von Bewusstsein ohne Körper oder in anderen Körpern und mehr Wirtschaftstheorie auf Speed als ich mir hätte vorstellen können. Was auch immer man von Stross und „Accelerando“ halten mag, er nimmt die größte Herausforderung für einen Science-Fiction-Schriftsteller mutig an: Er zeigt uns die nahe Zukunft, er erklärt uns das 21. Jahrhundert – bis zum bitteren Ende.
Zu Anfang dreht sich alles um den Software-Guru Manfred Macx, der ständig seine Patente verschenkt und von vielen unterstützt wird. In seiner nahen Zukunft fangen die Menschen an, ihr Wissen und die Recherchen in der digitalen Welt über Datenbrillen im Web abzuwickeln.
Ich überspringe ein paar Hundert Seiten und ein paar Jahrzehnte: Bewusstsein kann hochgeladen werden. Und es passiert, was passieren muss – Bewusstsein, dass von einem menschlichen Körper getrennt ist, trennt sich vom Menschen, von der Menschlichkeit. Es entwickeln sich neue, schneller denkende körperlose Lebensformen, die Zustandsvektoren der sogenannten Posthumanen, die beginnen alle Materie im Sonnensystem in Computronium umzuwandeln. Das ist ein Teil eines neuen Wirtschaftssystems, das die Menschen auch mit ihren Neuroimplantaten nicht mehr verstehen. Die biologische Lebensform wird eine Minderheit, eine bedrohte, aussterbende Art.
Das ändert auch Manfreds Tochter Amber nicht, die sich aufmacht, um als Datensatz über einen außerirdischen Router eine fremde Zivilisation zu entdecken. Als ihr digitales Bewusstsein schließlich zurückkehrt und einen neugeklonten Körper bekommt, muss sie feststellen, dass ihr Original ganz unverständliche Entscheidungen getroffen hat, zum Beispiel einfach zu sterben.
Eine Lawine von philosophischen Gedankenspielen tritt Charles Stross dabei mit jedem zweiten Satz los: Ist die Kopie eine andere Person, sobald sie andere Erfahrungen gemacht hat? Welche Rechte haben digitale Bewusstseinskopien von intelligenten Lebensformen? Wie ändert sich unser Bewusstsein, wenn wir virtuell leben und nach jedem Schicksalsschlag auf Reload drücken und ein Lebenskapitel von vorne beginnen könnten? Wie ändern wir uns, wenn wir nicht mehr sterben müssen, wenn unser Körper stirbt?
Stross geht darauf nicht konsequent ein, aber anhand der verschiedenen Charaktere des Romans, zum Beispiel Ambers Sohn Sirhan (der Sohn des Originals wohlgemerkt), ahnen wir, wie sich der Blick auf die Welt verändert. Sirhan hat sich übrigens in den Kopf gesetzt, die ganze Familie über drei Generationen zusammenführen. Das geht nicht gut. Dabei gibt es ganz andere Probleme: Die Posthumanen, der missratene Nachwuchs der Menschheit, will die überlebenden Homo sapiens auslöschen. Noch einmal eine Gelegenheit für den uralten Manfred Macx, mit einem genialen Schachzug die Superhirne auszutricksen. Am Ende ist es allerdings Manfreds Roboterkatze, die als ständige Begleiterin der Familie, beim Showdown den Ausschlag gibt …
Accelerando ist übrigens in der Musik eine fortschreitende Beschleunigung des Tempos. Und genau das habe ich auch als Leser erlebt: Die Geschwindigkeit der technischen Veränderungen und ihrer enormen Auswirkungen erhöht sich während des Romans ständig, bis es zu einem Zukunftsschock bei der Lektüre kommt, ganz im Sinne von Alvin Toffler, der 1965 den Ausdruck „Zukunftsschock“ erfand, um die Diskrepanz zwischen der technologischen Veränderung und der Trägheit menschlicher Anpassung zu beschreiben. Darum ist es auch nur folgerichtig, dass Stross seinen Roman mit immer mehr Anspielungen, Ideen, Theorien, Visionen und technischen Möglichkeiten vollgestopft hat, bis einem am Ende der Schädel brummt. Dennoch – oder vielleicht genau deswegen – ein sehr empfehlenswerter Roman.
Charles Stross
„Accelerando“
Heyne, 559 Seiten, 8,95 Euro
ISBN 978-3-453-52195-7
Und hier gibt es eine Leseprobe.
Für den 2005 zuerst erschienen Roman erhielt Stross den „LOCUS AWARD“. Passend zur Open Source-Großzügigkeit des Protagonisten Manfred Macx war der Roman digital auch unter einer Creative Commons-Lizenz erhältlich – wie auch diese Rezension hier.
Text und Podcast stehen unter einer Creative Commons-Lizenz. Quelle: Thomas Laufersweiler/SchönerDenken
Andere Meinung
Alexander Pechmann ist ebenfalls begeistert: