Verehrter Shu Qingchun

Verehrter Shu Qingchun,
einen Verleumder und Nestbeschmutzer nannte man Euch, als Ihr Eure dystopische Satire ‚Die Stadt der Katzen’ im Jahre 1933 veröffentlichtet. Denn natürlich hatte man sehr rasch erkannt, dass die von Eurer Hauptfigur, einem auf dem Mars gestrandeten chinesischen Astronauten geschilderten Zustände dort in kaum verhüllter Form Befindlichkeiten Eurer eigenen Heimat beschrieben: ein altes und reiches, jedoch innerlich zerfressenes und politisch sieches Land, das den ökonomischen und militärischen Attacken aggressiver Invasoren fast nichts mehr entgegenzusetzen hatte, und in dem die ausgehöhlten Relikte des alten Kaiserreiches mehr und mehr ersetzt wurden durch ein nur vermeintlich volksnäheres und weniger korruptes Parteiengefüge.

Auch war man mit dem Genre der Satire an sich nicht vertraut, die in der chinesischen Literatur in dieser Form bis damals kaum je vorgekommen war (Ihr kanntet sie u.a., weil Ihr einige Jahre in England verbracht und dort Swift gelesen hattet). Euer ursprünglich als Auftragsarbeit für eine Literaturzeitschrift entstandener Fortsetzungsroman konnte jedenfalls über drei Jahrzehnte hinweg in seinem Bezugsland nicht mehr erscheinen, und Ihr wurdet schließlich mit dem Großteil Eurer Werke Opfer der kulturpolitischen Entmündigung der chinesischen Literatur unter Mao Zedong.

Es ist sehr bezeichnend für die kommunistische Paranoia, dass man, als man Euch 1966 den Prozess machte, sich mit seinen Hauptanklagepunkten immer noch auf dieses Frühwerk bezog, obwohl dessen kaum übersehbare Anspielungen auf den Opiumhandel und die Rolle der europäischen Kolonialmächte doch politisch gar nicht mehr so aktuell waren. Oder doch? Dass Ihr mit Eurer Erzählung über das zerfallende, selbstausbeuterische Reich der Marskatzen, deren Abhängigkeit von den Rauschblättern und deren selbstzerstörerische Angst vor allem Fremden das vorkommunistische China bloßgestellt hattet, dürfte den Kommunisten dabei in der Tat ziemlich gleichgültig gewesen sein. Aber dass Ihr Euch mit Eurer Autorenstimme getraut hattet, in satirischer Weise öffentlich über den Staat und die Natur staatlicher Propaganda zu reflektieren – das fürchtete man an Euch und musste es zum Schweigen bringen.

Es waren wohl Äußerungen wie diese, die den Kommunisten ein Dorn im Auge waren, denn sie warfen einen geschärften Blick auf die Bruchstellen jeder Propagandarhetorik. Der chinesische Astronaut lässt sich hier von seinem Gastgeber, einer Marskatze, etwas über die Politik des Katzenreiches berichten:

„Berichte mir Genaueres, und wenn es noch so durcheinander geht!“ bat ich ihn.
„Dann will ich mit den Krakeelen anfangen.“
„Krakeele? Was ist denn das?“
„Früher gab es das bei uns ebenso wenig wie Hosen. Ich weiß nicht, ob ihr auf der Erde vergleichbare Dinge habt, oder besser gesagt nicht ’Dinge’, denn es handelt sich um eine Art politische Organisation: man schließt sich zusammen, um gemeinsam bestimmte politische Ideen und Grundsätze zu vertreten.“
„Doch, so etwas haben wir auch. Wir nennen es Parteien.“
„Nun gut, die ursprüngliche Bezeichnung tut nichts zur Sache; als wir diese Einrichtung übernahmen, benannten wir sie jedenfalls um in ‚Krakeele’. Du musst bedenken, seit jeher hat bei uns alles in den Händen des Kaisers gelegen, das Volk durfte keinen Mucks tun. Plötzlich kam aus dem Ausland die Kunde, dass das Volk auch die Politik in die eigenen Hände nehmen könne. Dieser Gedanke überstieg das allgemeine Vorstellungsvermögen; es konnte doch nur die Aufforderung zu Tumult und Aufruhr sein. Als es plötzlich hieß, mehrere könnten sich zu einer Vereinigung oder Partei zusammenschließen, fand in den Klassikern niemand eine passende Bezeichnung dafür. Da half alles Blättern nichts, nur das Wort ‚Krakeel’ schien irgendwie Sinn zu ergeben, denn welch andere Absicht konnte man haben, wenn man sich zu so großen Haufen zusammenfand?“

Als Ihr dann im Folgenden den Marsianer beschreiben liesst, wie die Parteifunktionäre sich von Fürsprechern des Volkes zu ausbeuterischen Bonzen wandelten, unterschriebt Ihr Euer eigenes Todesurteil, das 1966 unter bis heute ungeklärten Umständen vermutlich von fanatischen jugendlichen Kommunisten vollstreckt wurde – die das Buch mit großer Wahrscheinlichkeit nie selbst gelesen hatten. Da half Euch auch Euer Autorenpseudonym Lao She nichts mehr.

Dabei hattet Ihr doch als ‚nur’ humoristischer Autor begonnen, und die Giftbeimischung, die Humor und Satire unterscheidet, hat Euch, wie es scheint, der Geist der Zeit aufgezwungen. Satiriker sind die natürlichen Antikörper im Blut eines jeden Staatsorganismus, der sich selbst einer gewaltsamen Metamorphose unterzieht, und als solcher habt Ihr zuletzt Euer Leben gegeben. Es ist ein tröstlicher Gedanke, dass Eure Stimme dabei nicht verstummt ist, wenngleich sie weiterhin außerhalb Eurer Heimat deutlicher zu vernehmen ist als in China selbst. Eure Theaterstücke (besonders „Das Teehaus“) sind moderne Klassiker der chinesischen Dramenliteratur, und auch die Prosawerke „Der Rikschakuli“, „Vier Generationen unter einem Dach“ und nicht zuletzt „Die Stadt der Katzen“ wurden vielfach übersetzt.

Möget Ihr der chinesischen Gegenwart noch lange als unbequemer Klassiker erhalten bleiben!
Es verbleibt mit einer achtungsvollen Verneigung –

Ihr
Hendrik Schulthe

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