Heute vor 500 Jahren wurde der Reformator Calvin geboren. Christopher hat aus diesem Anlass die Calvin-Biographie von Volker Reinhardt gelesen. Das Buch zeigt auf, wie sich Genf innerhalb von 25 Jahren zum Glaubenszentrum wandelte. Reinhardt beschreibt, wie Calvins Reformation die Stadt veränderte und aus Mission Tyrannei wurde.
Nächstenliebe war nicht sein Hauptanliegen. Stattdessen hatte Johannes Calvin der Sündhaftigkeit des Menschen den Kampf angesagt. Ausgangspunkt und Zentrum dieser Mission war Genf. Für fünfundzwanzig Jahre wurde die Stadt am Lac Léman für die einen zum Vorbild der reformatorischen Umgestaltung, für andere zum Hort der Intoleranz. Calvins Versuch, eine absolut tugendhafte Stadt zu schaffen sowie sein Extremismus bei der Verfolgung dieses Ziels polarisierte. Er entzweite nicht nur die Zeitgenossen, sondern trug ihm bei seinen Kritikern den die Jahrhunderte überdauernden Vorwurf der Despotie ein.
„Dank einer großartigen organisatorischen Technik ist es Calvin gelungen, einer ganzen Stadt, einem ganzen Staat mit tausenden bisher freien Bürgern in eine starre Gebotsmaschinerie zu verwandeln, jede Selbständigkeit auszurotten, jede Denkfreiheit zugunsten seiner alleinigen Lehre zu beschlagnahmen.“
Der 1936 formulierte Vorwurf steht unter dem Eindruck des totalitären Wahrheitsanspruchs des NS-Regimes und findet für Stefan Zweig seine religiöse Entsprechung in der Person Calvins. Allzu häufig jedoch verstellte bislang der abschreckende Rigorismus des Reformators die Sicht auf die historische Situation, in der Calvin und Genf zu Beginn des 16. Jahrhunderts zueinander fanden.
Calvin und die Flucht in den Glauben
„Die Tyrannei der Tugend“ von Volker Reinhardt öffnet diesen Blickwinkel und fügt dem religiös geprägten Panorama eine regionalgeschichtliche Dimension hinzu. In seinem Buch zeigt Volker Reinhardt, Professor an der Universität Fribourg, die Wechselwirkungen zwischen den „bisher freien Bürgern“ und dem Verkünder der neuen Gesellschaft. Genfs „Wiedergeburt“ kam nicht über Nacht, sondern war das Produkt einer allmählichen Erosion, mit der sich die Machtverhältnisse und die institutionelle Ordnung der Stadt zu wandeln begann. Die Flucht in den Glauben war kein spontaner Reflex, keine plötzliche Hinwendung zum Extrem. Sie war vielmehr auch das Ergebnis einer Großwetterlage, die auch den Mikrokosmos der Genfer Bürger veränderte und umgestaltete. Calvins Herrschaft lag keine Machtergreifung zu Grunde und doch veränderte sie die Gesellschaft tiefgreifender als es sich so mancher Patrizier vorstellen konnte.
Neuordnung der kommunalen Machtverhältnisse
Genf im Jahre 1520 war eine freie und bedrängte Stadt zu gleich. Am Schnittpunkt mehrerer Handelsrouten gelegen, rückte die durch Handel und Wandel reich gewordene Stadt an der Rhone ins Zentrum regionaler Begehrlichkeiten. Dabei versuchte vor allem das Herzogtum Savoyen über den in Genf residierenden Bischof und Teile des Bürgertums verlorenen Einfluss zurückzugewinnen. Innerstädtische Streitigkeiten und herzogliche Drohgebärden waren die Folge und verstärkten das Streben der Stadt, die eigene Unabhängigkeit rechtlich und politisch abzusichern. Dies führte zum einen zu einer Neuordnung der kommunalen Machtverhältnisse und zum anderen zu einer Suche nach zuverlässigen Bündnispartnern. In beiden Fällen orientierte sich Genf an der eidgenössischen Nachbarschaft. Fribourg und vor allem Bern lieferten hier mit ihren Stadtverfassungen nicht nur Vorlagen für die künftige Herrschaftsordnung, sondern standen auch als Bewahrer städtischer Freiheiten zur Verfügung.
Unabhängigkeit erforderte ein klares Bekenntnis
Angesichts dieser Ausgangsvoraussetzungen konnten Genfs Autonomiebestrebungen religiöse Fragen nicht ausklammern. Kommunale Selbstbestimmung schloss daher die Kontrolle der kirchlichen Aktivitäten ein. Mit der Distanzierung vom savoyischen Vormachtsanspruch begann in Genf somit auch der Stern der katholischen Kirche zu sinken. Dass dieser Prozess nicht abrupt verlief und in einer schlagartigen Hinwendung zum Protestantismus endete, weist Reinhardt unter anderem an der zurückhaltenden Reaktion der Genfer Bürger auf die Predigten von Calvins Vorgänger Guillaume Farel’s nach. Es bedurfte vielmehr weiterer Einflüsse, um die Stadt von ihrer Suche nach einem eigenen Weg abzubringen. Einer davon war die Hinwendung Berns zum Protestantismus. Politische und religiöse Nähe zu Bern waren für das militärisch schwache Genf überlebenswichtig. Genfs Unabhängigkeit erforderte ein klares Bekenntnis. Doch die Hinwendung zum Protestantismus eröffnete dem Genfer Wunsch nach Eigenständigkeit auch neue Betätigungsfelder.
Calvin kompensiert Bedeutungsverlust
Calvins Erscheinen kompensierte den politischen und militärischen Bedeutungsverlust der Stadt. Sittenstrenge und gesellschaftlicher Konformismus begannen das Stadtbild zu prägen und das Leben der Genfer Bürger zu verändern. Ein Prozess, der wie Reinhardt detailliert nachweist, keineswegs konfliktfrei verlief. Die überaus strenge Interpretation des Reformators sprach dem Menschen die Fähigkeit zur Läuterung ab und setzte stattdessen auf die Kontrolle der „Sünder“ durch die Kirche. Hier aber bestimmten nicht Mitleid, sondern die Gnade Gottes über das Schicksal der Menschen. Auseinandersetzungen mit den weltlichen Autoritäten der Stadt waren damit vorgezeichnet und bestimmten das Wirken Calvins. Dennoch überwogen für den Rat, dies zeigt Reinhardt sehr eindringlich, die Vorteile von Calvins Religionspolitik. Genfs Ruf als tugendhafteste Stadt ließ sie mehr und mehr zur Anlaufstelle reformierter Glaubensflüchtlinge werden. Ein Prestigezuwachs, der die immer strenger organisierte Überwachung der Bürger in den Hintergrund treten ließ.
Von der Bürgerstadt zum Glaubenszentrum
Zustimmung und Ablehnung, Flucht und Zuwanderung veränderten Genf und damit auch die politische Meinungsbildung. Jenseits des theologischen Rigorosums unterzog Calvin Genf damit auch einer gesellschaftlichen Transfusion, der die alten Eliten allmählich zum Opfer fielen und durch neue ersetzt wurden. Reinhardts „Tyrannei der Tugend“ beschreibt beides. Den von Calvin geforderten Wandel von der liberalen Bürgerstadt zum reglementierenden Glaubenszentrum, aber auch die damit einhergehende administrative Gewalt. Vor allem letztere überdauerte die Zeiten und legte mit der von Calvin geforderten absoluten Pflichterfüllung die Grundlage zu jener „Mechanisierung der Welt“, die spätere Generationen so vehement beklagten.
Volker Reinhardt
Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf.
Beck 2009
Gebunden, 271 Seiten
Euro 24,90.