Thomas liest „Aldebaran“ von Jean-Claude Izzo
„Aldebaran ist ein Stern im Sternbild Stier. Der Name stammt aus arabisch ?????????, ad-Dabar?n, und bedeutet der (Nach-)Folgende, weil der Stern den Plejaden am Himmel zu folgen scheint.“
aus: Wikipedia
Wem sollen die Männer an Bord der Aldebaran folgen, jetzt, wo das Schiff in Marseille festsitzt? Am letzten Platz der hintersten Mole, weil der Reeder in Konkurs gegangen ist und niemand mehr erwartet, dass der Frachter jemals wieder in See stechen wird. An Bord sind drei Männer, die das Schiff nicht verlassen: Der Kapitän Abdul Aziz aus dem Libanon, der Erste Offizier Diamantis aus Griechenland und der Matrose Nedim aus der Türkei. Für das Schiff gibt es keinen Kurs mehr und keine Hoffnung. Und das scheint auch für die drei Männer zu gelten.
„Aldebaran“ ist ein melancholischer Roman. Und damit hartes Brot für mich. Melancholie gehört für mich zu den unerwünschten Gemütszuständen – sie lähmt das Denken, verzögert das Handeln, öffnet Grübeleien und Verzagtheit eine Hintertür in mein Leben. Einen melancholischen Roman zu lesen ist sozusagen Melancholie unter kontrollierten Bedingungen, Melancholie auf Zeit. Ich denke, ich schulde dem Leser jetzt zumindest ein Beispiel für den schwermütig-traurigen Charakter des Buches:
„Erinnerungen schlummern einfach vor sich hin. Bereit, eine günstige Gelegenheit zu ergreifen und aufzuflammen. Um uns in verlorene Welten zu ziehen. Erinnerungen, die schönsten und unbedeutendsten, sind die versäumten Augenblicke des Lebens. Zeugen unserer nicht zu Ende gebrachten Taten. Sie tauchen wieder auf um eine Vollendung zu finden. Oder eine Erklärung. Diamantis war eine leichte Beute für sie. Melina hatte geweint.“
Verloren, versäumt, nicht zu Ende gebracht, weinend …
Mein erster, sehr starker Eindruck war, dass ich einen Roman von Joseph Conrad lese: der gleiche intensive Blick in die Gedankenwelt von Männern, die sich von ihren Familien entfernen und statt dessen einem unwägbaren Leben ausliefern. Der gleiche sparsame und kraftvolle Umgang mit einer Sprache, die sich ganz unvermittelt zu düsterer Dramatik aufschwingen kann:
„Bevor er seine Kabine verließ, notierte Abdul im Bordbuch: „k.b.V.“, keine besonderen Vorkommnisse. Wie jeden Tag. Nur, dass es heute nicht stimmte. Heute würde die gesamte Besatzung das Todesurteil der Aldebaran unterschreiben. Und seines mit.“
Der Autor Jean-Claude Izzo macht es mir nicht leicht, mich mit Nedim zu identifizieren: Er ist ein gutaussehender Holzkopf, dessen Charakter fragwürdig ist. Der Kapitän Abdul entfernte sich von mir im Laufe des Romans immer mehr, im gleichen Maß wie er sich von der Wirklichkeit zurückzieht. Einzig Diamantis findet sich im Leben zurecht und er ist auch der Einzige, der Antworten findet auf seine Fragen. Über die sehr spannende Handlung möchte ich gar kein Wort verlieren: Sie wirkt umso stärker, je weniger man sich zuvor auf sie einstellen kann. „Aldebaran“ ist ein sehr starker Roman, gleichzeitig schwermütig und in der harten Realität verwurzelt, für mich jetzt schon ein moderner Klassiker der Seefahrerliteratur – mit einer wunderbaren Sprache:
„Vor ihm lag das Fort Saint-Jean, die ehemalige Komturei des Ritterordens vom heiligen Johannes zu Jerusalem. Das Licht schien sich das Rosa seiner Steine schmecken zu lassen, es leckte an den kleinsten Unebenheiten mit der gleichen Lust und Leidenschaft wie an einem Himbeereis.“
Jean-Claude Izzo
Aldebaran
Aus dem Französischen von Katarina Grän und Ronald Voullié
Unionsverlag, 256 Seiten, 9,90 Euro (Taschenbuch)
ISBN 978-3293002944
P.S. „Aldebaran“ ist natürlich auch ein Marseille-Buch. Für Kenner und Freunde dieses Hafenstadt absolut unverzichtbare Lektüre! Eine sehr informative Kritik hat Ralph Gerstenberg für Deutschlandradio Kultur geschrieben. 2003 wurde der Roman verfilmt.