Der lockeren Zunge des Homo berlinensis entspricht sein klarer Blick. In Kombination ergibt das im Idealfall praktische Lebenshilfe auf der Straße. Eine Kurz-Analyse im Vorübergehen. Eine Art Berliner Wandeltherapie. Hier als (Selbst-)Erfahrung in drei Akten.
Szene 1: Dichtes Gedränge in der Kaufhaus-Abteilung mit reduzierter Damen-Oberbekleidung. In Ermangelung einer Kabine – geschätzte Wartezeit ein halbes Leben – probiere ich im Verkaufsraum vor einem Spiegel an. Ein luftiges Sommerblüschen habe ich über Jeans und T-Shirt gestreift. Drehe und wende mich prüfend. Zupfe hier und lupfe da. Bemerke auf einmal ein zweites Gesicht im Spiegel. Eine Geschlechtsgenossin, in etwa alters- und größengleich, Kundin wie ich, schaut mir über die Schulter und meint ungefragt: „Ditte is schön, aba obenrum een bisschen enge. Nehmen se ma lieba nee Jröße mehr, wa. Ick kenne det Problem.“ Sprach‘s und taucht ab in der Menge.
Jetzt habe ich eine Bluse im Schrank, deren zweistellige Größe in nahezu astronomischer Höhe mich so deprimiert, dass ich gleich das Schildchen rausgeschnitten habe. Aber sitzen tut sie wirklich besser.
Szene 2: Flohmarkt. Ich in sensationellen Highheels zum sensationellen Schnäppchenpreis. Nur leider kein Spiegel. Aber wozu haben andere Menschen Augen im Kopf? Und einen Mund zu reden? Ein Mann im Rentneralter bemerkt meine Entscheidungsnot und erklärt großmütig: „Sehn jut aus die Schuhe! Richtich jut!“ – „Und ich“, frage ich zurück, „sehe ich denn auch gut aus in diesen Schuhen?“ Antwort: „Dat meente ick doch, wollte Ihnen bloß nich gleich so mit die Tür innet Haus fallen.“
Gekauft die Schuhe! Aber sofort! Und der Spiegel zuhause – das sei mit aller Bescheidenheit vermerkt – gibt meinem anonymen Berater nicht unbedingt unrecht.
Szene 3: Wochenmarkt. Aaah lecker! Der Stand mit den orientalischen Süßigkeiten. Baklava & Co in allen Variationen. Verpackt in 500 Gramm Portionen. Also ungefähr eine Million Kalorien im handlichen Mitnahmeformat. Fünf Euro sind eigentlich auch kein Preis für soviel Sinnenfreude. Wären da nicht die fiesen kleinen Kalorien …
Der samtäugige Verkäufer mit Migrationshintergrund bemerkt mein Zögern und preist seine Ware zuckersüß und ökologisch wertvoll an: „Alles Natur. Nur beste Zutaten, Nüsse, Honig, keine Lactose.“ Ich: „Ja schon, aber zuviele Dickmacher drin.“ Er (mit klimpernden Schwarzaugen): „Das ist doch wirklich kein Problem bei Ihrer Figur!“ Ich (so einfach wickelt mich niemand ein): „Netter Versuch, aber das weiß ich besser.“ Er: „Es ist arabisches Baklava, viel weniger Honig drin als im türkischen.“ Ich: „Immer noch genügend, um zuviel zu sein.“ Er: „Das ist sechs Monate haltbar, Sie müssen ja nicht alles auf einmal essen.“ Ich (zunehmend wehrlos, verpasse meinen Einsatz) … Er (zunehmend eifrig im Endspurt auf sein Verkaufsziel): „Und ich mache Ihnen jetzt auch Spezialpreis, nur vier Euro die ganze Packung.“ Ich (schon mit wässrigem Mund): „Na gut, das ist fair. Ich kann’s mir ja einteilen. Hält ja sechs Monate.“
Immerhin, sechs Tage hat das Baklava bei mir überlebt. Zumindest das letzte winzig kleine Stückchen. Die erste Hälfte der Packung war noch am gleichen Abend weg.
(Mehr von Clara in 14 Tagen)
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