Christopher liest Klaus Kreisers „Atatürk. Eine Biographie“
Am Anfang stand der Untergang. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden auch die Karten im Orient neu gemischt. Aus der Erbmasse des Osmanischen Reiches entstand eine Vielzahl neuer Staaten. Einer von ihnen war die Türkei, die politisch wie rechtlich die Nachfolge des untergegangen Imperiums antrat. Mit der Geburt dieses Staates verbunden war auch die Diskussion über Zukunft des Osmanischen Reiches und damit über die Vereinbarkeit von Islam und Aufklärung.
Niederlage und Besetzung ließen wenig Spielraum für Kompromisse. Alte Eliten wurden ins Abseits gedrängt, neue folgten ihnen. Ihr Anführer war Mustafa Kemal, besser bekannt unter dem Namen Kemal Atatürk. Seine Entscheidung für ein modernes säkulares Staatswesen beendete den Traum vom allislamischen Gottesstaat. Statt der Nachfolge Allahs stand von nun an die Westbindung der Türkei auf der Tagesordnung. Wissenschaftliche Bildung und westliche Kultur prägen seither den Alltag.
Auch heute noch beherrschen die Grundsätze des legendären Staatsgründers das politische und gesellschaftliche Leben der Türkei. Atatürk, der „Vater aller Türken“, ist Symbolfigur und Staatsmann zugleich. Ein Umstand der Historiker wie Biographen leicht in den Verdacht der Ketzerei geraten lässt. Mit „Atatürk – eine Biographie“ macht sich Klaus Kreiser auf die Suche nach der historischen Figur und will den schmalen Grat zwischen Dichtung und Wahrheit vermessen.
Atatürks Leben ist Legende. Nach dem frühen Tod des Vaters entscheidet sich Mustafa Kemal 1896 für eine militärische Laufbahn. Mustafa ist mathematisch begabt. Naturwissenschaften und Technik fallen ihm leicht. Darüber hinaus ist er auch literarisch interessiert. Schon früh beschäftigt er sich mit Schriften Namik Kemals und Mehmet Emins und macht sich deren nationalliberale Ideen zu eigen. Bereits 1907 schließt sich Atatürk der „Gesellschaft für Einheit und Fortschritt“ an. Einem Sammelbecken für nationale und jungtürkische Ideen.
Der erste Weltkrieg beschleunigt seine Karriere. Mit der Verteidigung der Dardanellen gegen eine britisch-französische Invasionsarmee wird Atatürk zum Kriegsheld. Nach dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches und der Besetzung durch die griechische Armee, organisiert der Kriegsheld seit 1919 den nationalen Widerstand. Der Friede von Lausanne und die damit verbundene Revision des Friedensabkommens von 1918 werden zur Geburtsurkunde der modernen Türkei. Kurz darauf beginnt Atatürk mit der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Neuorganisation der Türkei. Seine Vorgehen ist radikal. Islamische Schulen werden geschlossen, die lateinische Schrift eingeführt und der Sonntag zum arbeitsfreien Tag erklärt. Kompromisslos in der Sache und unbeirrbar in dem Wunsch die Türkei mit dem Westen gleichzustellen wird Atatürk schon zu Lebzeiten zur unumstrittenen Führungsfigur.
Das Leben beginnt jenseits des Mythos. Klaus Kreiser weiß das. Atatürks Lebenslinie folgt keinem Idealmaß. Der Gründer der modernen Türkei bleibt zwiespältig. Seine Ziele – die Modernisierung und Demokratisierung der osmanischen Gesellschaft – konkurrieren schon zu Lebzeiten mit dem Bekenntnis zur türkischen Nation. Ein Widerspruch, der sich besonders im Umgang mit Minderheiten wie den Armeniern und Kurden verdeutlicht. Den Kern von Atatürks Westorientierung bildete eine Aufklärung, die im Dienste der Nation stand. Ihre Einheit und Geschlossenheit waren die Grundlage für bürgerliche Freiheit. Im Unterschied zu seinem französischen Vorbild, betrieb Atatürk eine Revolution von oben. Eher ungewollt vollzog er damit eine Entwicklung nach, wie sie sich in dem mit Skepsis betrachteten Deutschen Reich nur wenige Dekaden zuvor abgespielt hat.
Staatsgründer im Zeitalter des beginnenden Totalitarismus stehen unter Generalverdacht. Klaus Kreiser widerspricht diesem im Hinblick auf die Türkei Atatürks zu Recht. Kreiser beschönigt nicht, benennt die Repressionen gegenüber Andersdenkenden. Atatürks Führungsanspruch erscheint ihm vor diesem Hintergrund autokratisch. Im Unterschied zu Lenin oder Hitler gründete sich seine Herrschaft jedoch nicht auf Terror und Massenmord. Sie war vielmehr unter der Führung seiner Nachfolger zur Entwicklung demokratischer Strukturen fähig. Voraussetzung dafür war allerdings eine über mehrere Jahrzehnte dauernde Relativierung Atatürks. Die Türkei von heute hat nichts mehr mit der von Kreiser für die Jahre zwischen 1923 und 1946 beschriebenen „Erziehungsdiktatur“ gemein. Auch wenn der Staat Atatürks bis heute nach dem richtigen Mischungsverhältnis von Pluralität und Nation zu suchen scheint.