Transterrestrische Denksause

Hendrik liest Von Menschen und Außerirdischen. Transterrestrische Begegnungen im Spiegel der Kulturwissenschaft

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Wenn du dich in Gedanken bewegen kannst,
dann geh‘ zu den Orten, wohin dich die Füße nicht tragen,
geh‘ zu den entfernten Sternen und lerne alle ihre Welten kennen.

Giordano Bruno, De Immenso, 1591

Eigentlich, so könnte man annehmen, kann es den Transterrestrischen Zweig der Kulturwissenschaft doch (noch) gar nicht geben, da ihm schlicht der Forschungsgegenstand zu fehlen scheint. Was soll es für einen Sinn ergeben, sich mit den Details der Begegnung mit nichtmenschlicher, außerirdischer Intelligenz zu beschäftigen, noch bevor überhaupt gewiss ist, ob und ggf. wo und in welcher Form es dieses andere Leben und Denken überhaupt gibt?

Andererseits: Was wäre, hätte man sich vor der Auffindung Amerikas durch die Europäer schon Gedanken darüber gemacht, wie man die Sprache und Kultur der Indianer verstehen und die drohenden Genozide an technisch weniger entwickelten Zivilisationen würde verhindern können? Die Historie lässt ahnen: Vermutlich hätte das nicht viel geändert, denn die Erstbegegnungen der Völker waren und sind nur selten von jenen moralischen Tugenden durchdrungen, auf die sich die Gattung Mensch in ihren Selbstdefinitionen gerne so viel einbildet.

Immer kommt erst die Gier und danach die Moral, erst die Eroberung, dann (irgendwann und auch nur vereinzelt) die Besinnung. Und gerade dieser Widerspruch zwischen der Reife des Denkens und der Unreife des Tuns, gesehen auf einer kulturellen und politischen Makroebene, ist der Punkt, der uns einer völlig anders gearteten Lebensform gegenüber eines Tages vielleicht am deutlichsten charakterisieren wird. Sind wir zufrieden mit diesem Image?

Zu solchen und ähnlichen Gedanken führt – zumindest mich – diese neu erschienene Aufsatzsammlung, die auf den ersten Blick eine wohltuende Waage zu finden scheint zwischen den oft nur halbdurchdachten Trivialsekundärliteraturen zu populären Zukunftsentwürfen wie Star Trek oder Perry Rhodan und den häufig überakademisiert versponnenen, ungeerdeten Aufsätzen, wie sie die Futurologie in den meisten ihrer Textwerdungsfälle zustandebringt.

Die Herausgeber dieser Sammlung von einem Dutzend Studien haben sich vorgenommen,

Denken, Erzählen und Forschen über ‚Aliens‘ einmal genauer in den Blick zu nehmen und nach den sozialen, ideengeschichtlichen und epistemologischen Konstruktionen zu fragen, die hinter den unterschiedlichen Zugängen zu den potentiellen Außerirdischen und ihren Beziehungen zur Menschheit stehen. (Engelbrecht/Schetsche, S. 8)

Das beginnt mit einem Blick auf die Frage, wie denn das Außerirdische eigentlich in den populären Medien (wo seine Sozialisation im Unterschied zur Realität ja längst ihren Weg gegangen ist und allabendlich weltweit viele private Einladungen an Aliens ergehen) dargestellt und erzählt wird. Kaum überraschen kann dabei die Erkenntnis, dass das vermeintlich Fremde oftmals nur eine mehr oder weniger offensichtliche Spiegelung des Eigenen ist – eine Reflektion und Variation über das Thema Mensch und damit keine Auseinandersetzung mit dem (soweit vorstellbar) Nichtmenschlichen. Jeder trifft nur immer wieder auf das ihm schon Vertraute: der Paranoide und Xenophobe auf die fleischgewordenen Monstren seines Unterbewussten, das Kind des Kalten Krieges auf androide kalte Killer aus dem All, ein im Empire geborener Erzähler wie H.G. Wells auf imperialistische Eroberer, die Macher der U.S.-Serie Star Trek auf mehr oder weniger wiedererkennbare Variationen über das Thema Amerikaner. Aber das ist – und zu diesem Schluss gelangt auch Matthias Hurst in seinem Aufsatz über die „Dialektik des Aliens. Darstellungen und Interpretationen von Außerirdischen in Film und Fernsehen“ – gar nicht negativ, denn es spricht weniger von einer Unfähigkeit zur wirklichen Fremdbetrachtung, als von einer Einübung differenzierter Selbsterkenntnis und Toleranz,

wenn schon nichts Fremdes, dann zumindest Fremdartiges wahrzunehmen und in Relation zu uns selbst zu verstehen. (Hurst, S. 52)

Die Aufsatzsammlung führt uns dann weiter in die Ideengeschichte des Fremden, die – fernab aller TV-Serienformate und ihrer Marktzwänge – eine starke Wurzel in der Philosophie des 15. Jahrhunderts findet (Marie-Luise Heuser: „Transterrestrik in der Renaissance: Nikolaus von Kues, Giordano Bruno, Johannes Kepler“).

Einer der sich daraus entwickelnden Triebe ist die (u.a. von Erich von Däniken recht medienwirksam vertretene) Prä- oder Paläoastronautik: die Vorstellung, die wahren Geburtshelfer der Menschheit und damit ihre eigentlichen Kulturheroen seien Besucher von fremden Sternen gewesen. Autor Ingbert Jüdt ist dafür zu bewundern, dass ihm eine grundlegend kritische Betrachtung dieser Denkrichtung, zugleich jedoch auch eine bedenkenswerte kritische Hinterfragung der Gründe der oft unreflektierten Aburteilung solcher unetablierter Denkmodelle seitens der Träger ‚zeitgenössischer Alltagsvernunft‘ gelingt.

Von den früheren Besuchen der Aliens zu den heutigen führt die Beschäftigung mit U.F.O.-Sichtungen, und diesem Teilthema sind vier weitere, perspektivisch anregend heterogene Aufsätze gewidmet. Sowohl persönliche Entführungsberichte als auch grundlegende erkenntnistheoretische Überlegungen zur U.F.O.-Forschung werden hier zusammenfassend ausgewertet und kritisch beleuchtet. Und trotz der meist rasch mit Polemik angereicherten Diskussion zu diesem Thema bleibt das Buch selbst so ausgewogen, wie es dem selbstgestellten Anspruch an eine Diskursanregung zukommt, und enthält sich weitgehend eigener Wertungstendenzen.

Eine kurze Beschäftigung mit SETI (search for extraterrestrial intelligence) darf im Rahmen einer solchen Sammlung selbstverständlich nicht fehlen, ebenso wie die – aus meiner Sicht noch wesentlich interessantere – Parameteranalyse und Entwicklung verschiedener Kulturkontaktszenarien aus soziologischer Sicht.

Ein kurzweiliges dialektisches Dessert bietet Kai-Uwe Schrogls origineller Aufsatz über Weltraumpolitik und Weltraumrecht (in gewisser Weise naheliegend: wenn es neben der SF eine Literaturgattung gibt, die bestrebt ist, sich von vornherein mit jeder nur denkbaren Eventualität schon längst beschäftigt zu haben, bevor sich jene Eventualität der Realität auch nur auf Schussweite nähern kann, ist es juristische Literatur).

Zuletzt runden die Herausgeber ihre Darstellung mit einigen wissenssoziologischen Schlussbemerkungen ab. Sie kommen darin zu dem hoffnungsvollen Ergebnis, eine

Weltkultur, die sich technisch und kulturell […] zunehmend den sie umgebenden „unendlichen Weiten“ zuwendet, wird es mit der Zeit als immer weniger exotisch empfinden, über andere in diesen Weiten potentiell vorhandene Lebensinseln und den Kontakt mit ihnen nachzudenken. (Schetsche/Engelbrecht, S. 275)

(Und sie finden durchaus auch handfeste Belege für die Nähe ihrer Vision, wenn sie z.B. in einem u.s.-amerikanischen Handbuch für Feuerwehroffiziere von 1992 bereits ein Kapitel über „Enemy Attack and U.F.O. Potential“ entdecken.)

Zusammenfassend kann ich, auch wenn ich noch nicht alle Aufsätze habe lesen können, den Herausgebern des Bandes bereits jetzt ein Lob aussprechen. Als Ethnologe könnte ich mich zwar darüber ärgern wollen, dass hier wieder einmal Soziologen, Politologen, Psychologen und Philosophen den per se interdisziplinären Kerngedanken der Kulturwissenschaft besser begriffen zu haben scheinen als die diesem Kern eigentlich näherstehenden Ethnologen selbst. Aber das hindert mich nicht daran, gute editorische Arbeit zu erkennen und entsprechend zu benicken, wenn sie mir begegnet.

Die für die Sammlung getroffene Themenauswahl ist weder vollständig noch zwangsläufig – was die Herausgeber jedoch auch gar nicht beanspruchen: das Buch soll als Diskussionsgrundlage verstanden werden, und diesen Anspruch erfüllt es – inkl. der Option, mit den Autoren nicht immer einer Meinung zu sein.

Soweit ich das bis jetzt sagen kann, ist das sowohl gestalterisch als auch stilistisch weitgehend gelungene Buch (abgesehen von den dann doch auffindbaren Fehlern am Rande: der SF-Autor heisst Iain M. Banks, nicht Ian Banks, und die Protagonisten von Le Guins „The Word for World Is Forest“ sind Athsheaner, nicht Ashtheaner – und so fort) mehr als nur geeignet, tatsächlich dazu anzuregen, Diskursräume zu öffnen und dem in den Grenzzonen menschlichen Wissens stets notwendigerweise Wilden Denken kritisches, vorurteilsfreies Gehör zu verschaffen.

Als Menschen können wir, wie ich meine, durch solche geistigen Grenzöffnungen ja eigentlich nur weiser werden. Vielleicht haben wir uns eines fernen Tages das längst beanspruchte Attribut sapiens dann auch soweit verdient, dass wir uns nicht blamieren, wenn es den ersten von wirklich weither angereisten Botschafter zu begrüßen gilt. Bis dahin gilt wohl weiterhin der alte Spruch: ‚Eines der sichersten Anzeichen für intelligentes Leben da draußen ist, dass es noch nicht versucht hat, uns zu kontaktieren.‘

Von Menschen und Außerirdischen
Transterrestrische Begegnungen im Spiegel der Kulturwissenschaft
Schetsche, Michael – Engelbrecht, Martin (Hg.)
2008 transcript Verlag, Bielefeld
282 Seiten, Paperback, 27,80 €

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