Prof. Pu empfiehlt: „Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer“ von Alex Capus
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Der neue Roman von Alex Capus könnte auch „Der Maler, die Sängerin und der Physiker“ heißen. Oder „Drei Schweizer, die sich nicht kannten“. Genial seine Idee, die Geschichte in einem Moment zu beginnen, in dem sich die drei Protagonisten hätten begegnen können.
Ein winziger imaginärer Augenblick und drei Biographien werden nebeneinander laufend erzählt, wie drei Webstühle, die im gleichen Takt verschiedenfarbige Stoffe herstellen. Den Stoff für Emile Gilliéron, Laura d’Oriano und Felix Bloch.
Die Momentaufnahme: Der Orientexpress, Konstantinopel-Paris, fährt in den Bahnhof von Zürich ein. Ein dreizehnjähriges Mädchen verbringt die meiste Zeit der Reise, die sie mit ihren Eltern und Geschwistern nach Marseille bringen soll, in der offenen Zugtür.
Mit der rechten Hand raucht sie Zigaretten, die im Wind rasch verglühen. Wo sie herkommt, ist es nichts Ungewöhnliches, dass Kinder rauchen. Zwischen den Zigaretten singt sie Bruchstücke orientalischer Lieder – türkische Wiegenlieder, libanesische Balladen, ägyptische Liebeslieder: Sie will Sängerin werden wie ihre Mutter, aber eine bessere.
An den Gleisen sitzt ein Junge und beobachtet die einfahrenden Züge.
Gut möglich, dass dem Mädchen bei der Einfahrt in die Stadt jener junge Mann auffiel, der im November 1924 oft zwischen den Gleisen auf der Laderampe eines grau verwitterten Güterschuppens saß, um die ein- und ausfahrenden Züge zu beobachten und sich Gedanken über sein weiteres Leben zu machen. Ich stelle mir vor, wie er seine Mütze knetete, ihm das Mädchen im hintersten Wagen ins Auge fiel, das ihn mit beiläufigem Interesse musterte.
Sie winken sich zu und das war es. Laura d’Oriano und Felix Bloch werden sich nie begegnen. Der Dritte im Nicht-Bunde, Emilie Gilliéron, Kunstmaler, verlässt in diesem Moment den Züricher Bahnhof in Richtung Genf.
Er ist geschäftlich aus Griechenland über Triest und Innsbruck nach Reislingen bei Ulm gereist, wo er einen Auftrag an die Württembergische Metallwarenfabrik zu vergeben hatte. Auf der Rückreise will er einen Abstecher an den Genfer See machen, um die Asche seines Vaters, der kurz vor seinem dreiundsiebzigsten Geburtstag in einem Athener Restaurant tot unter den Tisch gesunken war, in heimatlicher Erde zu bestatten.
Emile Gilliéron, sein Vater gleichen Namens, war ein berühmter Mann. Er arbeitete als Zeichner für Heinrich Schliemanns Ausgrabungen und entwarf eine Briefmarkenserie für die griechische Post. Zusammen mit seinem Sohn restaurierte er für den Archäologen Arthur Evans die Fresken auf Knossos, bunt und nach ihren phantasievollen Vorstellungen; etwas, das den Archäologen von heute die Tränen in die Augen treibt. Allein diese Geschichte – nicht erfunden und wunderbar von Capus erzählt – ist eine interessante und kurzweilige Entdeckung gewesen. Keine Ahnung hatte ich von der „Erfindung“ der minoischen Kultur des Briten und seines hochtalentierten Malers, der doch nur ein Fälscher war, wenn auch ein ganz großer.
Noch spannender als die griechische Archäologie-Komödie ist die Lebensgeschichte Lauras. Sie ist wild entschlossen, in Paris Gesang zu studieren, muss sich irgendwann eingestehen, dass auch ihre Stimme, wie die ihrer Mutter, nur für Auftritte in Musikcafés reicht. Sie kehrt nach Marseille zurück und arbeitet in der Musikalienhandlung ihrer Eltern. Bis sie einen Schweizer kennenlernt und ihn heiratet. Sie übernehmen eine Drogerie in Nizza, doch aus Geldmangel ziehen sie in sein Heimatdorf Bottighofen. Eines Nachts kehrt ihre angeborene Unruhe zurück und sie verlässt Mann und zwei Töchter, um wieder in Paris zu leben. Durch die Umstände und ihre hervorragenden Fremdsprachenkenntnisse wird sie im Zweiten Weltkrieg zu einer erfolgreichen Spionin der Alliierten, bis sie den Fehler macht, den eine Agentin nicht machen darf, sie besucht ihre Mutter in Rom. Auf der Rückreise wird sie verhaftet und als einzige Frau, die je im Königreich Italien zum Tode verurteilt wurde, erschossen.
Und was ist aus dem Jungen auf den Gleisen geworden? Felix Bloch, dem Pazifisten, der nicht Maschinenbau studieren wollte, wie es sein Vater von ihm verlangte? Er wird nach dem Studium der Physik und Mathematik Assistent von Heisenberg in Leipzig und geht 1934 als Professor nach Stanford. Von dort holen ihn die Amerikaner für den Bau der Atombombe nach Los Alamos.
Er sei aus dem einzigen Grund nach Los Alamos gegangen, sagte er dem Wissenschaftshistoriker Charles Weiner am 15. August 1968 in seinem Büro am physikalischen Institut der Universität Stanford, weil er befürchtet habe, dass die Deutschen die Bombe vor ihnen entwickeln würden. Als sich dann gezeigt habe, dass dies sehr wahrscheinlich nicht geschehen werde, habe er sich verabschiedet, was einige seiner Freunde, insbesondere Oppenheimer, ziemlich verärgert habe.
1952 erhält er den Nobelpreis für Physik, ihm verdanken wir die Magnetresonanztomographie. Capus nennt seine Protagonisten „Helden wider Willen“ und spricht von „eleganten Niederlagen“. Besonders gefällt mir, dass diese seine Helden reale Personen waren. Für mich ist er ein großer Erzähler gut recherchierter Geschichten, ein echter Fabulierkünstler.
Text und Podcast stehen unter der Creative Commons-Lizenz BY-NC-ND.
Quelle: Petra Unger/SchönerDenken
Alex Capus
Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer
Hanser €19,90
978-3-446-24327-9
Hanser-Verlag-Video mit Capus: