Gerade gesehen: Hendrik über „Long Walk Home“
Das ist das Problem mit stillen Duldern: Man bemerkt sie zu wenig. Das gilt auch für ganze Völker. Und wer kennt schon die Geschichte eines so fernen Landes wie Australien? Dass es mal britische Strafkolonie war, das weiß man wohl noch vage aus alten Filmen oder historischen Romanen. Aber dass die Weißen (erst die Engländer, dann die ‚gewordenen‘ weißen Australier selbst) es lange Zeit teilweise zur Strafkolonie für die eigentlichen Ureinwohner gemacht haben, das weiß kaum jemand. Die Strafe wofür? Für das Nichtweißsein. Auf leise, angenehm unprätentiöse Weise konfrontiert dieser 2002 nach einer wahren Geschichte gedrehte Film mit dem Schicksal dreier Aborigines-Mischlingskinder im Jahre 1931. Zu dieser Zeit sind gemäß einem per Kolonialherrenselbstherrlichkeit dem Land aufgepropften Gesetz alle halbweißen Aborigines-Mischlingskinder aus ihrer Heimat zu entfernen und in möglichst weit entfernte Erziehungslager zu verbringen, wo ihre kulturellen Wurzeln rigoros gekappt werden, um sie zu hörigen Dienern der Weißen zu erziehen. Das Ziel lautet: keine dritte Rasse entstehen lassen, die später vielleicht zum Problem wird.
Dies geschieht auch mit den drei Mädchen Molly, ihrer jüngeren Schwester Daisy und ihrer Cousine Maicy aus Jigalong. Als Molly 14 Jahre alt ist, werden alle drei in ein über 1000 Meilen entferntes Erziehungslager gesteckt. Verantwortlich dafür ist der – im Film sehr zurückhaltend von Kenneth Branagh verkörperte – „Chief Protector of Aborigines“ A.O. Neville, der per Dekret automatisch das volle Vormundschaftsrecht über alle Mischlingskinder des Landes ausübt. Die drei Mädchen beschließen rasch, von dort auszubrechen, um irgendwie wieder in ihre Heimat und zu ihrer Mutter zurückzukehren.
Einzige Orientierung dabei ist der „rabbit-proof fence“, seinerzeit der längste Zaun der Welt, der die landwirtschaftlich erschlossenen Teile Australiens von den durch die weißen Siedler eingeschleppten Kaninchen beschützen sollte, die zu dieser Zeit noch eine große Plage waren. Dieser Zaun zog sich damals über 1.500 Meilen quer durch das australische Outback. Die drei Mädchen haben keine andere Wahl, als sich barfuß und ohne jede Ausrüstung zu Fuß entlang dieses Zaunes durchzuschlagen, dabei gesucht von der australischen Polizei und den Mitarbeitern Nevilles, darunter einem Aborigine-Fährtensucher.
Die Odyssee der drei Kinder wird in angenehm unsentimentalen und dadurch besonders ergreifenden Bildern umgesetzt, zusätzlich unterstützt von der dezent-gelungenen Filmmusik Peter Gabriels, der wie seinerzeit schon in „Passion“, dem Soundtrack zu „The Last Temptation of Christ“, eine atmosphärisch stimmige Synthese aus ethnomusikalischen Elementen schafft.
Regisseur Phillip Noyce verzichtet auf Schwarzweißmalerei – so wird Neville zwar natürlich von den Heiminsassinnen immer „Mr. Devil“ genannt, aber insgesamt ist die Figur völlig unaufdringlich angelegt: Branagh spielt ihn als typischen Beamten, der vor allem einen guten Job tun will und durchaus nicht begreift, warum „diese armen Leute einfach nicht verstehen wollen, was wir hier für sie zu tun versuchen“. Das unterstützt mir persönlich wieder einmal meine Theorie, dass die größten zivilisatorischen Grausamkeiten oft von ganz normalen Durchschnittsmenschen begangen werden, die nach einer Achtstundenschicht heim zu Frau und Kind gehen.
Auch die anderen Figuren – besonders Moodoo, der für Neville tätige Aborigine-Fährtensucher – sind nicht wirklich Bösewichte, sondern Menschen mit ihren jeweils ganz eigenen Motiven und Überzeugungen. Irgendwie kann man sie alle ein wenig verstehen, und genau das bringt zum Nachdenken. Oft werden diese Motive nur angedeutet, aber sie sind spürbar vorhanden, und dadurch fordern sie den Betrachter auf, sich zu fragen ‚Würde ich das nicht vielleicht auch so tun‘? – Schlecht weg kommen (und dies wohl wirklich zu recht) eigentlich vor allem jene, die im Film völlig unsichtbar bleiben: die weißen Väter der Mischlingskinder nämlich, die sich einen Dreck um das Schicksal ihrer Kinder scheren.
Man sollte sich (auch wenn man Untertitelhasser ist wie ich) bei „Long Walk Home“ nicht davon abschrecken lassen, daß Prolog und Epilog im Originalton von den zum Zeitpunkt der Entstehung des Films noch lebenden Frauen Molly und Daisy gesprochen und nur untertitelt werden – das ändert sich nach wenigen Minuten, und es ist ein schöner klanglicher Rahmen für die authentische Geschichte, die da erzählt wird.
Das für mich eigentlich Beklemmende an dem Film ist Mollys fast beiläufige Bemerkung im Epilog, wie ihr Leben weitergegangen ist: Zwar haben zwei der drei Mädchen die über 1000 Meilen lange Reise zuletzt bis nachhause wirklich geschafft, aber dort hat man natürlich auf sie gewartet. Und die Stimme der wirklichen Molly ergänzt in schlichten Worten, dass dies fast erst der Beginn ihrer Lebensodyssee war:
„Wir brachen sofort wieder auf und versteckten uns in der Wüste. Ich heiratete und bekam zwei Kinder. Man brachte mich und meine Kinder auch wieder in jenes Erziehungslager zurück. Erneut brach ich aus und trat den langen Weg nachhaus an, mein jüngstes Kind auf den Armen …“.
Spätestens hier fühlte ich mich einen Moment lang auf unbehagliche Weise sehr gemeint in meiner abendländisch-weißen Haut – und ich werte dies als ein wichtiges Gefühl, für das ich dem Film danke, mich dazu eingeladen zu haben.
„Long Walk Home“ endet mit einer Texttafel, die besagt, dass Mr. A.O. Neville noch bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1940 seine Arbeit fortführte. Das Gesetz wurde noch bis zum Jahre 1970 weiter umgesetzt.
Die FAZ stört sich an Kenneth Branagh.
Michael Haberlander über Landschaft und Politik in „Long Walk Home“.