Ein Phantom als Gast der „Simpsons“Der verschollene Gottkenner (Teil 3)

[display_podcast]

Podcast 21
J.D. Salinger wollte irgendwann kein öffentlicher Schriftsteller mehr sein. Seit 1965 schweigt er. Götz wirft einen Blick auf sein Leben und Werk. Im lange erwarteten dritten und letzten Teil erinnert er auch an andere „Verschollene“, an Pynchon, Gaddis, Kafka und Pessoa.

Erst sein „Tod“ machte Salinger endgültig zum Klassiker. Merkwürdig, dass sich fast gleichzeitig mit ihm ein anderer großer Autor der amerikanischen Nachkriegsliteratur, nämlich Thomas Pynchon, ebenfalls ins Inkognito zurückzog, in einer noch radikaleren Weise als Salinger, da seit Jahrzehnten nicht einmal Pynchons Wohnort bekannt ist und er bereits zu Beginn seiner Laufbahn kaum Spuren hinterließ. Pynchon kappte den Kontakt zur Welt nach dem überwältigenden Erfolg seines ersten Romans „V.“, der 1963 unter anderem als „bestes Debüt der Literaturgeschichte“ ausgezeichnet wurde. Im Gegensatz zu Salinger veröffentlicht Pynchon jedoch annähernd pro Dekade einen neuen, dickleibigen Roman, der plötzlich im Katalog seines Verlags angekündigt wird, da die sonst üblichen Pressetermine, Interviews und Lesungen entfallen.

Eine Zeit lang hielten sich sogar Gerüchte, Pynchon und Salinger seien ein und dieselbe Person, bis Pynchon dies irgendwann in Briefen dementierte. Salinger existierte immerhin für mehr als zehn Jahre als öffentlicher Autor, Pynchon ist quasi vom Beginn seiner Karriere an ein Phantom, von dessen Aussehen man sich allein anhand zweier unscharfer Aufnahmen des Studenten und des Marinesoldaten aus den fünfziger Jahren ein Bild machen kann. Erst vor einigen Jahren gelang noch einmal ein Zufallsfoto in einer New Yorker Straße, das Pynchon zeigen soll, unterwegs zu Einkäufen mit seinem kleinen Sohn.

Um Pynchon ranken sich noch mehr Legenden als um Salinger, den man gerne in irgendeinem Kloster im Himalaya wähnte, mal hielt man Pynchon für eine Erfindung des CIA, mal für einen Außerirdischen, wieder andere glaubten, seine Texte würden aus einem Paralleluniversum zu uns gesandt. Schon folgerichtig, dass Pynchon seinen bisher einzigen öffentlichen Auftritt als Trickfilmfigur in den „Simpsons“ hatte, wo er eine Papiertüte über dem Kopf trägt und am Ende des Regenbogens wohnt. Immerhin lieh er seine höchst eigene Stimme zu dem Spaß. Eine gute Gelegenheit war es für ihn, sich über seinen eigenen Mythos lustig zu machen, denn es mag ja sein, dass es weder bei ihm noch bei Salinger so rätselhaft zu ging und geht wie alle glauben, der Autor dieses Textes inbegriffen.

So verweigert sich Pynchon zwar den Medien, doch er hat Familie und Freunde. Seine Verleger kennen ihn und seinen Übersetzern schickt er manchmal Briefe. Auch jenes in einer New Yorker Straße gemachte Bild zeigt kein Monstrum, sondern eben einen Mann, der mit seinem Sohn simplen Alltagsdingen nachgeht. Pynchon wäre zuzutrauen, dass das Versteckspiel mit der Öffentlichkeit ursprünglich einfach bloß eine postmoderne Idee war, ein Gag, eine Volte, an der der Artist bald mehr und mehr Gefallen fand. Er wischte der Kulturindustrie eins aus, entging ihren Gefahren und wurde zugleich selbst zum Kunstwerk, das der paranoiden, vom Geheimdienstwesen besessenen amerikanischen Gesellschaft den Narrenspiegel vorhielt.

Die im Alltag Verschollenen

Ein weiterer im Bunde der herausragenden amerikanischen Schriftsteller der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, William Gaddis, teilte nicht das Schicksal der beiden anderen, doch auch er verschwand nach dem Misserfolg seines maßlosen, ungeheuerlichen Debütromans „Die Fälschung der Welt“ (The Recognitions), 1955, wieder aus dem Focus des Literaturbetriebs und verbrachte Jahre in verschiedenen „Brotberufen“, bevor er 1975 mit „JR“ wieder auftauchte. Der fast ausschließlich aus Dialogen bestehende Roman über einen elfjährigen Jungen, der per Telefon ein milliardenschweres Finanzimperium aufbaut, wurde mit dem National Book Award ausgezeichnet und schenkte einem berühmten Serienhelden des Fernsehens seinen Namen.

Gaddis gehörte also für einige Zeit zu den im Alltag verschollenen Dichtern, die einem Beruf nachgehen müssen und nur in ihrer Freizeit schreiben können. Die beiden berühmtesten Vertreter dieser Existenzform sind der Prager Versicherungsangestellte Franz Kafka und der Lissabonner Handelskorrespondent Fernando Pessoa. Gaddis erlebte allerdings noch den Erfolg zu Lebzeiten, Pessoa und Kafka dagegen starben, ohne dass ihr Name in der literarischen Welt einen Klang hatte. Beide neigten dazu, ihr Schreiben zu verheimlichen.

Pessoa sei an der Niederschrift seiner Einfälle mehr gelegen gewesen als an deren Publikation, schreibt der Übersetzer Georg Rudolf Lind im Nachwort zu Pessoas „Buch der Unruhe“, einer posthumen Komposition aus ungeordnet überlieferten Manuskripten, fragmentarischen Aufzeichnungen. Das „Buch der Unruhe“ ist erst 47 Jahre nach Pessoas Tod in Portugal erschienen und gilt heute als eine der wichtigsten Prosaarbeiten des 20. Jahrhunderts.

Ähnlich war es bei Kafka, der durch seinen Freund Max Brod zu Veröffentlichungen gedrängt wurde und bekanntlich seinen Nachlass zur Vernichtung bestimmen wollte. Immerwährend ist Kafkas Skepsis, das Infragestellen des eigenen Schreibens, wobei er sich andererseits seiner Berufung durchaus bewusst ist. Kafka verspürte Angst vor Öffentlichkeit und Ruhm. Sein Verleger Kurt Wolff hat folgende Aussage seines Autoren überliefert:

„Ich werde Ihnen immer viel dankbarer sein für die Rücksendung meiner Manuskripte als für deren Veröffentlichung“.

Kafka erkannte mit einer Klarheit wie kaum ein anderer Schriftsteller vor und nach ihm, dass man durch das Schreiben schuldig wird, indem man Möglichkeiten lebendigen Daseins, mitmenschlicher Nähe – allerdings aus einer inneren Notwendigkeit heraus – abweisen muss. Aus diesem Konflikt entsteht die Angst. Angst verursacht ihm, dass er fliehen muss, was er eigentlich sucht, das Leben, das freie Atmen. Auch Salinger war sich wohl dieses Konflikts bewusst.

Sollte man Antworten geben?

Sollte man sie also zu beantworten versuchen, die Frage, warum Salinger und Pynchon sich der Öffentlichkeit entzogen, warum Kafka und Pessoa zeit Lebens nicht nach einer literarischen Karriere strebten und sich selbst genügten?

„Das einzige, worum sich ein Künstler zu kümmern hat – er muss auf eine, irgendeine Art Vollkommenheit hinzielen, und zwar auf eine Vollkommenheit, deren Maßstäbe er selbst bestimmt, nicht irgendein anderer,“

so sagt es Zooey Glass zu seiner Schwester Franny, einer jener für Salinger typischen komischen Wahrheitssucher, die an allem zweifelnd das Leben fliehen (schon der vierjährige Lionel Tannenbaum in „Unten beim Boot“, Frannys Neffe, der sich in die am Steg schaukelnde Jolle seiner Eltern verkriecht, weil das Dienstmädchen der Familie seinen Papa beleidigt hat, ist ein solcher Wahrheitssucher). Franny findet fragwürdigen spirituellen Halt nur an einem religiösen Büchlein mit dem Titel „Der Weg des Pilgers“. Immer das gleiche kurze Jesus-Gebet vor sich hin murmelnd, liegt sie nach einem Nervenzusammenbruch auf einer Couch in der riesigen Familienwohnung, wo Zooey, gedrängt von Mutter Glass, sie aufstöbert und ihr in einem langen Vormittagsmonolog den Kopf wieder zurechtrückt.

Der Irrtum des Graphologen

Jedes dieser Autorenschicksale ist unvergleichlich und doch sind ihnen die Sehnsucht nach Einsamkeit und der Wunsch, allein in der Konzentration auf das Werk leben zu können gewiss gemeinsam. Äußerungen von Franz Kafka in einem Brief an Felice Bauer (vom 14. August 1913) könnten vielleicht ein Hinweis sein, der zum Grund all dieser Lebensbilder führt. Felices Brief ist nicht erhalten. Sie hat Kafkas Handschrift in einer Sylter Ferienpension einem Graphologen gezeigt und ihrem Freund unbedacht-naiv vom Ergebnis der Analyse berichtet. Kafka reagiert geradezu beleidigt, so als sei er empfindlich in seiner Ehre gekränkt und weist jede einzelne Vermutung des Schriftdeuters brüskiert und mit einem heiligen Ernst, der seine Freundin gewiss irritiert haben muss, zurück.

Vor allem das mit dem „künstlerischen Interesse“ sei nicht wahr, sondern „die falscheste Aussage unter allen Falschheiten“. Und Kafka fährt fort:

„Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.“

Kafka versuchte ja über Jahre hin immer wieder einmal, Felice klar zu machen, was das überhaupt bedeutet, ein Schriftsteller zu sein. Er versuchte ihr, das Unausweichliche, die Unbedingtheit des Schreibens vor Augen zu führen, die existenzielle Not, die gar keine andere Wahl lässt. Und das verbindet ihn nun mit Salinger und Pynchon, die spätestens seit ihrem Verschwinden diese Unbedingtheit konsequent leben und mit ihrem Werk identisch geworden sind. Das Mysterium ihres Lebens gehört untrennbar zu ihrer Kunst.

Ian Hamiltons Recherche „Auf der Suche nach J.D. Salinger“ erschien im Verlag Limes. Salingers Werk in der Übersetzung von Annemarie und Heinrich Böll ist im Rowohlt-Taschenbuchverlag noch erhältlich; die Neuübersetzungen des „Fänger im Roggen“ und von „Franny und Zooey“ kamen bei Kiepenheuer&Witsch heraus. Die Werke von Thomas Pynchon gibt es ebenfalls als Rowohlt-Taschenbücher. Das „Buch der Unruhe“ von Fernando Pessoa wurde jüngst in einer stark erweiterten neuen deutschen Fassung vom Verlag Ammann herausgegeben. Sie ist inzwischen auch bei Fischer-Taschenbuch erschienen. Die „Fälschung der Welt“ von William Gaddis wurde vom Verlag Zweitausendeins veröffentlicht, der Roman „JR“ bei Rowohlt. Kafkas „Briefe an Felice“ sind ebenfalls als Fischer-Taschenbuch zu haben.

Die verschollenen Autoren wurden empfohlen von Götz Kohlmann
Sprecherin: Susanne Hagen

Schreibe einen Kommentar