„Der große Roman einer unvollendeten Liebe“

sagt La Stampa. Prof. Pu empfiehlt: „Die Einsamkeit der Primzahlen“ von Paolo Giordano

[display_podcast]

Primzahlen sind durch 1 und durch sich selbst teilbar. Sie haben ihren festen Platz, eingeklemmt zwischen zwei anderen, in der unendlichen Reihe natürlicher Zahlen, stehen dabei jedoch ein Stück weiter draußen. Es sind misstrauische, einsame Zahlen. Deshalb fand Mattia sie auch wunderbar und dachte manchmal, dass sie irrtümlich in dieser Folge, aufgereiht wie Perlen einer Halskette, gelandet waren. Andere Male dachte er, dass sie vielleicht gern wie alle anderen gewesen wären, einfach beliebige Zahlen, was ihnen aus welchen Gründen auch immer aber nicht gelang. Dieser zweite Gedanke kam ihm vor allem abends, in dem chaotischen Geflecht von Bildern, die dem Schlaf vorausgehen, wenn das Hirn zu müde ist, um sich noch selbst zu belügen.

CoverMattia und Alice sind solche Primzahlen. Beide haben in ihrer Kindheit traumatische Dinge erlebt, die sie hellsichtiger machten, aber zugleich auch zu einsamen Außenseitern. Als die beiden sich im Gymnasium kennenlernen, ist sie gerade dabei, sich in einer Freundin zu täuschen, während er seinen einzigen Schulfreund unabsichtlich enttäuscht. Fast zwei Jahrzehnte lang berühren und verfehlen sie sich. Wenn sie überhaupt zu jemandem Vertrauen fassen können, dann nur Mattia zu Alice, Alice zu Mattia. Sie erleidet aufgrund der Sturheit ihres Vaters einen schweren Skiunfall.

Alice della Rocca hasste die Skischule. Sie hasste den Wecker, der auch jetzt in den Weihnachtsferien morgens früh um halb acht klingelte, und ebenso ihren Vater, der ihr beim Frühstücken zusah und dabei nervös mit dem Bein unter der Tischplatte wippte, wie um zu sagen: Los, beeil dich doch endlich. Sie hasste die Strumpfhose, die an den Oberschenkeln kratzte, die Skihandschuhe, in denen sie die Finger nicht bewegen konnte, den Helm, der ihre Wangen zusammenkniff und dessen Metallschnalle sich in ihren Unterkiefer bohrte, und vor allem diese Skischuhe, die viel zu eng waren und in denen sie wie ein Gorilla lief.

Sie behält nach dem Unfall ein steifes Bein und reagiert mit Magersucht. Einmal wagt sie es, ihren Freund Mattia zu küssen. Was diesen vollkommen verstört. Sie heiratet einen Mann, den sie nicht liebt. Sie braucht viele Jahre, um zu verstehen, daß der einzige Mensch, mit dem sie auskommen kann, Mattia ist.

Als die Zwillinge noch klein waren und Michela wieder einmal eine ihrer typischen Aktionen gemacht hatte – etwa sich mit dem Laufstuhl die Treppe hinunterzustürzen oder sich eine Erbse so tief ins Nasenloch zu stecken, dass man sie zur Unfallstation bringen musste, um ihr dort mit einer Spezialzange den Fremdkörper entfernen zu lassen, wandte sich ihr Vater manchmal an Mattia, der kurz vor der Schwester das Licht der Welt erblickt hatte, und erklärte ihm, dass Mamas Gebärmutter für sie beide wohl zu klein gewesen sei.
„Wer weiß, was ihr da in ihrem Bauch getrieben habt. Vielleicht hast du sie ständig getreten und ihr damit ernsthafte Schäden zugefügt.“

So etwas darf man Kindern nicht sagen. Sie verinnerlichen solche Sätze. Und als Mattia nur einmal ein paar Stunden ohne seine behinderte Schwester sein will, geht sie für immer verloren.

„Du bleibst also hier sitzen und wartest auf mich“, sagte er.
Michela schaute den Bruder mit ernster Miene an, ohne etwas zu antworten, denn antworten konnte sie nicht. Es war nicht zu erkennen, ob sie die Anweisung verstanden hatte, aber einen Moment lang leuchtete etwas in ihren Augen, und sein ganzes Leben lang würde dieser Blick für Mattia das Sinnbild für Angst bleiben.

Seit diesem Moment spürt er nur noch etwas, wenn er sich selbst verletzt, sich mit seiner geliebten Mathematik beschäftigt – oder wenn Alice in seiner Nähe ist. Trotzdem zieht er weit weg von ihr, an eine Universität im Norden Europas. Bis sie ihn bittet, zurückzukommen, weil sie glaubt, etwas für ihn Wichtiges entdeckt zu haben. Doch sie bleiben einsame Primzahlen …

Poetisch und klar schildert Paolo Giordano in seinem Erstlingswerk die Seelenzustände der beiden mit Sätzen, die mir manchmal den Atem raubten.

Mattia dachte, dass er an seinem Kopf gar nichts Besonderes finden konnte. Dass er ihn gerne abgeschraubt und durch einen anderern ersetzt hätte oder durch eine Keksschachtel, wenn sie nur leer und leicht wäre. Er machte den Mund auf, um zu antworten, dass das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, zu den entsetzlichsten Kerkern zählte, die man sich selbst errichten konnte, aber dann schwieg er.

Selten habe ich so eindringlich beschrieben gefunden, wie stark Kindheitserlebnisse Menschen für immer prägen können. Giordano erhielt 2008 dafür den Premio Strega, den höchsten italienischen Literaturpreis, mit 26 Jahren war er jüngster Gewinner seit Bestehen der Auszeichnung.

Paolo Giordano
Die Einsamkeit der Primzahlen
Blessing € 19,95
ISBN 978-3-89667-397-8

Schreibe einen Kommentar