„Also ich fordere, daß die Welt blau ist!“

Prof. Pu empfiehlt:  „Die Welt ist blau“ von Viktoria Wolff

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Mit großem Vergnügen suche ich mir Lektüren, die in der Gegend meines Urlaubsortes spielen – klappt nicht immer, doch dieses Mal war es ein Volltreffer. Der „Sommerroman aus Ascona“, erstmals erschienen 1933, hat mich bezaubert. Ursula, eine heitere Zwanzigjährige, fährt mit ihrem Geliebten Peter, einem etwas angespannten, bisweilen recht strengen Rechtsanwalt, ins Blaue. Am Gotthard erobert sie sich das Lenkrad:

„Die Geschwindigkeit beschwingt sie, das Steuer verwandelt sie in ein kühnes Kind ohne Besinnen. Die Kilometerleidenschaft der ersten Tage hat sie mit Macht ergriffen. Dem Mann ist nicht wohl zumute dabei. Er fährt in Gedanken jede Kurve mit.
„Paß auf“, sagt er oft, „fahre doch rechts.“
„Wenn Du noch mal den Lehrer spielst, fahre ich dich in den Graben“, droht sie, als sie genug davon hat.
„Das Schlimmste an deiner Drohung ist, daß ich sie dir zutraue, Mädchen.“
Nun gibt aber auch schon die tolle junge Frau dem Wagen einen jähen Ruck, daß er gerade noch in der Kurve zum Stehen kommt.
„Da hast du deinen alten Karren“, sagt sie brüsk.
„Wenn ich nicht Mitleid mit dir hätte, ginge ich zu Fuß ins Tessin.“
„Aber Mädel, so war das doch nicht gemeint.“
„Von mir war das schon so gemeint.“
„Ist da nicht ein t zuviel in diesem Wort?“
Nur solche Töne verfangen bei Ursula.
„Schau einmal an, der Herr ist witzig.““

Sie landen in Ascona am Lago Maggiore, im neuen Hotel auf dem Monte Verità, inmitten einer Ansammlung von Exzentrikern, Lebenskünstlern und merkwürdigen Paarkonstellationen. Im Speisesaal denken sie sich für die Gäste Namen aus: Aus der Frau, die immer nach ihrem Hund Maxi ruft, wird die Maxikanerin, eine andere, sehr Attraktive, nennen sie „das Titelbild“, es gibt das „Trio“, eine Frau mit Ehemann und Geliebtem.

Die Welt ist blau (Foto: Prof. Pu)

Viktoria Wolff hat das bunte Treiben im Ascona der Zwanziger Jahre, wo sich besonders gerne die reichen Berliner tummelten und „ihre erotischen Ferien verleb[t]en“, wunderbar beschrieben. Das mondäne Hotel gehörte damals dem ehemaligen Bankier Kaiser Wilhelms II., Baron Eduard von der Heydt. Man erzählte sich von „Picassos, die im Hotelaufzug hingen“. Jedes Bett hatte Rollen, um es in „lauen Nächten“ auf den Balkon zu fahren, im Park, durch den die Gäste in „Lufthemden“ wandelten, standen Buddhastatuen. Immer wieder erfreut hat mich die Modernität in den Einstellungen Ursulas:

„Selbstbeschäftigung, zwei Stunden lang“, schlägt Ursula vor, die plötzlich von dem heftigen Wunsch, allein zu sein, überfallen wird.
„Zwei Stunden?“ fragt er zögernd; „das ist lange.“
„Gar nicht lange; ein Zwölftel des Tages! Lächerliche Summe!“
[…] Ursula steigt allein auf ihren Berg; sie fühlt sich frei und leicht. Peter ist dem See zugegangen. Sie will lesen, reden, schreiben, allein sein, sie weiß nicht recht, was sie will; sie weiß nur, daß sie diese einsamen peterlosen Stunden braucht.
[…] Er ist nicht gerne allein; nur aus Klugheit folgt er dem Wunsche des Mädchens, sich zu trennen. Meist hält ihn die quälende Sorge besetzt, warum schickt sie mich fort und was tut sie wohl.“

Während dieser zehn Tage werden sowohl Ursula als auch Peter in Versuchung geführt. Er durch eine geschiedene Dame, sie durch einen im Hotel auftretenden Illusionisten und Zauberkünstler – Ähnlichkeiten mit dem berühmten Hanussen sind beabsichtigt. Peter reagiert übertrieben, Ursula dagegen klug: Sie ist der Meinung, daß alles dazu diente, sich gegenseitig zu prüfen und zu erkennen. Sie fordert einen Vertrag:
1. Offenheit, 2. Selbsterkenntnis, 3. Respekt, 4. Menschlichkeit, 5. Optimismus:

„Also ich fordere, daß die Welt blau ist, auch wenn sie grau scheint, muß sie blau sein, du, hörst du! Das ist eine gewaltige Sache, Peter. Hast du sie verstanden?
§ 5: Die Welt ist blau. Das klingt nicht eben juristisch einwandfrei.
Gerade deshalb ist es die beste Stelle des Vertrages, Pet.“

Anfangs erinnerte mich der Roman mit seiner Leichtigkeit an Tucholskys „Schloß Gripsholm“, gegen Ende erreicht die Autorin eine beeindruckende philosophische Tiefe. Jenseits der Spiegelneuronenforschung des 21. Jahrhunderts liest man hier, wie zwischenmenschliche Begegnungen verändern können. Auch ist in Anbetracht des Erscheinungsjahrs viel zwischen den Zeilen zu lesen. Viktoria Wolff schrieb den Roman bereits im Tessiner Exil und gehörte zu den „unerwünschten Schriftstellerinnen“ des Dritten Reiches.

Im ebenfalls sehr lesenswerten Anhang von Anke Heimberg werden einige der Protagonisten entschlüsselt und vor allem Viktoria Wolffs Lebens- und Emigrationsweg beschrieben. „Die Welt ist blau“ ist eine blau-glücklich machende Entdeckung.

Viktoria Wolff
Die Welt ist blau
AvivA-Verlag
978-3-932338-32-8

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