„Manchmal genügt ein Nichts, damit das Leben aus den Fugen gerät.“

Prof. Pu empfiehlt: „Die erste Liebe“ von Véronique Olmi

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Emilie ist gerade dabei, das Essen für ihre Silberhochzeit vorzubereiten. Hätte sie auf ihren Mann gehört, säßen sie in einem Restaurant, sie aber wollte einen besonders schönen Abend zu zweit haben und ist dann doch mit den Vorbereitungen überfordert. Schon der Einkauf stürzt die fahrige Frau in kleine Krisen.

Wirklich, es hätte perfekt sein können. Wenn. Ich mich nicht mit dem Weinverkäufer gestritten hätte. Nicht aus seiner Boutique gerannt wäre, ohne etwas zu kaufen, und schließlich die Flasche Pommard genommen hätte, die Marc am vorangegangenen Wochenende aus Burgund mitgebracht hatte und die in die Anzeigenseiten von Libération gewickelt war.

„Emilie, Aix 1976. Komm so schnell wie möglich zu mir nach Genua. Dario.“

Dario Contadino. Ihre erste Liebe. Unvergessen.
Sie ist noch so geistesgegenwärtig, den Herd abzuschalten und die Kerzen zu löschen.
Dann nimmt sie die Autoschlüssel und fährt los. Hals über Kopf. Ohne ihr Handy oder Gepäck mitzunehmen Sie schreibt ihrem Mann nur, er solle sich „BLOSS keine Sorgen“ machen.
In Rückblicken, mit wunderschönen Beschreibungen, wie in einem französischen Film der Siebziger Jahre, erzählt Veronique Olmi die Liebesgeschichte der beiden Sechzehnjährigen. Dario, der italienische Liebling der Götter, nein, der französischen Mädchen, ist vielfach geküsst, doch nur mit Emilie verbindet ihn mehr als mit den anderen. Bisher kennt sie so etwas wie Symbiose nur aus dem Verhältnis zu ihrer großen Schwester, „der ein Chromosom fehlt“.  Dario ist es, der sie aus der Eintönigkeit des Familienlebens herausholt, sie wortlos versteht, und ihr zum ersten Mal in der Kabine eines Schallplattenladens Chopin vorspielt, ein erster inniger Moment.

(…) ein Wort, dass ich noch nicht kannte, verband Dario und mich und entfernte uns von den anderen.
Später lernte ich dieses Wort: „Intimität“. So nah an der Schüchternheit. Fast dieselbe Zartheit, die Geduld, die man braucht, um dorthin zu gelangen.

Auch jetzt entflieht sie ihrem eintönigen Leben mit den drei Töchtern, die sie nicht mehr brauchen und dem Mann, der ihr langweilig geworden ist.

Lieben wir uns, Marc und ich? Ich glaube eher, wir verstehen uns gut, trotz unserem Gezanke, und wir tun, was wir zu tun haben. Unsere Freunde, die sich nacheinander im regelmäßigen Rhythmus von drei Monaten scheiden lassen, sagen uns, was für ein Glück wir haben, dass wir beide „auf einer Wellenlänge liegen“.
Sie wissen nicht, dass sich diese Welle nicht bewegt, sie tanzt nicht durch die Luft und vibriert tatsächlich nicht genug, um uns über Bord zu werfen. Wir liegen in derselben Hängematte. Um uns herum schwankt alles und wir halten uns aneinander fest.

Paris hinter sich lassend, lässt sie sich treiben, fährt erst nach Aix-en-Provence, besucht ihre Schwester im Heim, wird von einer der Töchter aufgespürt, die ihre Mutter natürlich überhaupt nicht versteht. Auch ihr Mann kann nicht begreifen, was sie da tut. Auch sie selbst wundert sich immer wieder über ihre Sehnsucht nach Dario, die so plötzlich ausgebrochen ist und so lange verborgen lag. Zu Recht fragt sie sich, ob diese Anzeige wirklich ihr galt.

In Genua angekommen, wird sie mit harten Realitäten konfrontiert. Auch wenn Emilie tatsächlich die in der Anzeige Angesprochene ist, so war es nicht Dario, der sie aufgegeben hat …

Der nostalgischen Verklärung meiner Jugendzeit ziemlich abgeneigt – jeder zufällig gehörte Siebziger-Jahre-Titel katapultiert mich ungewollt in die Sonntagnachmittag-Disco vom Katholischen Jugendheim – hat mich dieser Roman sehr berührt und nachdenklich zurückgelassen. Wie sagt Emilie zu Beginn des Buches:

„Manchmal genügt ein Nichts, damit das Leben aus den Fugen gerät.“

Véronique Olmi
Die erste Liebe
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Kunstmann 19,90 €
978-3-88897-702-2

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