Sehr geehrter Herr Fritz Mühlenweg,
in China, dem Land, das Ihr so geliebt und so gern bereist habt, gibt es heute viele, die sagen, Geschichte sei etwas, das man hinter sich gelassen habe, um etwas Neues, ganz anderes zu beginnen. Aber die jahrtausendealte Historie Chinas und die zahlreichen Kulturen in dem weiten Reich – z.B. die alte Kultur der Mongolen, die Ihr so gut kanntet – haben ein Gewicht, das auch von einer zu einem scharfen Schnitt entschlossenen Gegenwart von der Zukunft des Landes nicht abzutrennen ist. Wer seine Wurzeln kappt, kann nicht in den Himmel wachsen – da gibt es keine Hilfe. So oder ähnlich würden es zumindest wohl Großer-Tiger und Kompass-Berg ausdrücken, die dreizehnjährigen Helden Eurer heute immer noch bekanntesten Abenteuererzählung, die schon 1950 unter dem Titel „In geheimer Mission durch die Wüste Gobi“ ihre Leser zu fesseln wusste – und das auch heute noch vermag.
Als ich diese für ein Jugendbuch ungewöhnlich lange – ungekürzt immerhin rd. 750 Seiten – und doch so spannende Erzählung seinerzeit verschlang, wusste ich natürlich nichts von dem historischen Hintergrund der innerchinesischen Konflikte gegen Ende der 1920er Jahre, also genau der Zeit, die Ihr als Reisebegleiter Sven Hedins in China und der Mongolei verbrachtet. Sie haben mich, offen gestanden, auch nicht besonders interessiert, und der Geheimauftrag, mit dem die beiden losgeschickt werden, ist ja offenkundig nur der Aufhänger für die eigentliche Geschichte: die Abenteuerreise der beiden Jungen von Peking aus quer durch die Wüste Gobi bis nach Urumtschi in der Mongolei, die übrigens für den Chinesen Großer-Tiger eine genauso fremde Welt ist wie für seinen deutschen Freund Christian.
Als Kind bin ich den beiden mit großen Augen in die blauen Zelte der Mongolen gefolgt, habe mit ihnen einige Brocken der schweren Sprache gelernt (Tinger metne!), bin neben dem Soldaten Glück im Lastwagen durch die Steppe gerumpelt (immer mit einem Auge zum zwielichtigen Grünmantel schielend), später auf Kamelen und Pferden geritten und zuletzt tatsächlich in Urumtschi angelangt. Geholfen hat mir beim Verschlingen des Werkes der erfrischende Humor der beiden Freunde –
„Es gibt keine Hilfe“, sagte Großer-Tiger düster.
“Es gibt keine Hilfe“, bestätigte Christian.
“Wie!“ rief Großer-Tiger, „du sagst auch, es gibt keine Hilfe? Das darfst du nicht tun. Du musst etwas anderes sagen.“
„Es fällt mir nichts anderes ein.“
„Kwi-Schan!“ rief Großer-Tiger flehend, „es muß dir etwas einfallen. Es geht nicht, dass wir beide mutlos sind.“
„Dann“, sagte Christian, „müssen wir einen Vertrag machen: Nur einer von uns darf verzweifelt sein und ‚Es gibt keine Hilfe‘ sagen.“
„Das bin ich“, sagte Großer-Tiger geschwind.
„So wäre es kein Vertrag. Ein Vertrag ist anders. Sobald einer von uns ‚Es gibt keine Hilfe‘ sagt, dann muß der andere von etwas Zuversichtlichem reden, und dann ist es ein Vertrag, der gilt.“
„Ich habe es zuerst gesagt.“
„Da bestand der Vertrag noch nicht!“
„Besteht er denn jetzt?“
„Ja“, sagte Christian, „wenn es dir recht ist, besteht er.“
„Es ist mir recht“, erklärte Großer-Tiger, „und ich sage als erster: ‚Es gibt keine Hilfe‘.“
Großer-Tiger schaute, was Christian für ein Gesicht mache, und dann mußten beide lachen.
Und natürlich habe ich die beiden Helden für ihre Fähigkeit bewundert, dem Fremden mit offener, vorbehaltfreier Art zu begegnen. Mir persönlich hat das Buch damals gesagt: freue Dich darüber, dass Du staunen kannst – und dass es Dinge gibt, die des Staunens wert sind. Denn Staunen ist eine ganz besondere Form von Souveränität, sich selbst und allem Fremden gegenüber. Diese Stärke würdet Ihr wohl im Augenblick in China nur selten finden, einem Land, das sich kein Staunen gestattet, weil es zu sehr mit der ständigen Selbstübertrumpfung beschäftigt ist.
Das ist gerade jetzt besonders schade, denn damit wird die Chance vertan, auch ein Ereignis wie die Olympiade als etwas zu erleben, bei dem es absolut nicht darauf ankommt, welche Athleten aus welchem nationalen Trainingslager an diesem und jenem Tag eine Dreiviertelhundertstelsekunde schneller sind, sondern als eine Begegnung von Menschen, die einander sonst nie begegnet wären, von fremdverwandten Kulturen und staunenswerten Fähigkeiten an einer gemeinsamen Spielstätte. Ich fürchte, derzeit ergreifen nur wenige Menschen im Pekinger Lichtertrubel die Gelegenheit zu dieser Sichtweise. Aber da gibt es wohl keine Hilfe.
Vieltausendfaches Glück wünscht Euch:
Hendrik Schulthe