„Ein Pfad in der unbekannten Welt“
Götz entdeckt Kafka neu
Erster Teil
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Vor einiger Zeit schaltete ich während einer Autofahrt das Radio ein. Es lief gerade eine literarische Lesung. Ich hörte eine Weile zu und überlegte mir, aus welcher Zeit dieser Text wohl stammte und wer ihn geschrieben haben könnte. Ich glaubte nicht, dass es sich um einen sehr bekannten Schriftsteller handelte. Alles klang sehr schlicht: die Dialoge, die Beschreibungen. Plötzlich fiel der Name einer Figur – „Delamarche“ – und mit einem Mal wusste ich, aus welchem Werk da vorgelesen wurde: es war „Der Verschollene“ von Franz Kafka. Eine merkwürdige Erfahrung, ihm noch einmal wie einem Unbekannten zu begegnen.
Beim weiteren Hören verblüffte mich dann etwas anderes. Gerade die fragmentarischen Kapitel, die in irgendeiner amerikanischen Vorstadt und dort in der verwahrlosten Wohnung Bruneldas spielen, hatte ich früher als bizarr, surreal, traumartig empfunden; doch nun bemerkte ich ihren Realismus. Hält man sie neben Berichte über das Amerika der Wende zum 20. Jahrhundert, neben Bilder, die das Elend und die Enge in den Quartieren der Einwanderer zeigen, dann wird deutlich, wie nah an der Wirklichkeit Kafka schrieb. Kafka wollte nicht nur seine Imagination Amerikas schildern, sondern auch die tatsächlichen sozialen Verhältnisse.
Er schrieb nicht ins Blaue hinein, sondern betrieb durchaus Recherche, nicht unbedingt systematisch, doch was ihm zufällig begegnete, das fiel auf fruchtbaren Boden. Fasziniert hatte er Zeitungsreportagen über die Entwicklung der Vereinigten Staaten gelesen, er hatte Augenzeugenberichten von Amerikafahrern gelauscht, einige von ihnen stammten aus seiner nahen Verwandtschaft; das Schicksal der Immigranten war ohnehin im multikulturellen Prag vor dem Ersten Weltkrieg ein alltäglicher Gesprächsstoff, alles dies floss ein in ein Werk, das man jedem, der noch keine Zeile von Kafka gelesen hat, vor all seinen anderen Werken ans Leseherz legen möchte.
In den Jahren, bevor Kafka mit dem später als eigenständige Erzählung veröffentlichten ersten Kapitel „Der Heizer“ den Roman begann, hatten die Einwanderungsquoten auf Ellis Island im Hafen von New York ihren Höhepunkt erreicht. Im Frühjahr 1907 gab es Tage, an denen mehr als 11.000 Menschen die Kontrollen passierten. Die Einwanderer wurden in ihrem gelobten Land von einer gnadenlosen, bürokratischen Prozedur empfangen. Sie erhielten Nummern, wurden in Reihen aufgestellt, in der riesigen Halle wogte ein von den ständigen Kommandos und Ausrufen der Beamten durchschnittener Stimmenbrei.
Wer in irgendeiner Weise verdächtig war, musste sich speziellen Untersuchungen unterziehen: ein Kreidezeichen auf der Kleidung ordnete die Betroffenen ein. Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen wurden von der Einwanderungsbehörde in der Regel abgewiesen, und viele andere auch, etwa wer an einer unheilbaren Augenkrankheit litt. Der Schriftsteller Henry James fasste seine Eindrücke nach einem Besuch von Ellis Island zusammen:
„Vor dieser Tür, die sich ihnen erst nach hundert Fragebögen und unzähligen Formalitäten auftut, stehen sie und warten – mal kürzer, mal länger, um Aufnahme bittend, planmäßig geordnet, zusammengetrieben, aufgeteilt und sortiert, überprüft, durchsucht und desinfiziert. Es ist ein Drama, das sich ohne Pause fortsetzt, Tag für Tag, Jahr für Jahr …“
– Und so beginnt eine von Kafkas berühmtesten Parabeln:
„Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz.“
– Amerika, das Gesetz. Diese an uralten, jüdischen Erzähltraditionen orientierten Parabeln Kafkas sind so unerschöpflich, weil sie die unterschiedlichsten Erfahrungen von unzähligen Menschen, inklusive seiner eigenen, in ein abstraktes Konzentrat verwandeln. „An diesem Ort waltet die harte, unbarmherzige Maschinerie des Gesetzes“, schrieb der Geistliche Edward Steiner 1906 über Ellis Island. Später, im Roman „Der Prozess“, sollte Kafka diese Maschinerie des Gesetzes, die auch ein Gleichnis des Lebens selbst ist, bis aufs kleinste Zahnrädchen zerlegen. Hier, im „Verschollenen“ bewegt er sich noch auf den Pfaden des traditionellen Entwicklungs- und Abenteuerromans und zaubert einen reichen Onkel aus der Feder, der den armen Karl Roßmann vorerst aus dem Griff der lästigen Obrigkeiten befreit und ihm die Einwanderungsbürokratie erspart.
Im „Verschollenen“ findet sich eine Passage, die ich für eine der eindrucksvollsten und gewiss für die berührendste in Kafkas gesamtem Werk halte. Es handelt sich um Thereses Erzählung vom Tode ihrer Mutter. Das Mädchen arbeitet wie der jugendliche Protagonist Karl Roßmann im großen Hotel Occidental. In dieser Passage zeigt Kafka, dass ihm vollkommen klar war, um welchen Preis der Aufstieg Amerikas zu Stande kam; er bündelt in einer Episode, was ihm im gesamten Roman eine Leitlinie ist: die Kehrseite des Traums der Einwanderer von Glück und Wohlstand offen zu legen.
Auch in Amerika bestehen die „Klassenverhältnisse“ (so der Titel einer Verfilmung des Romans von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet), die Ungerechtigkeiten, die Aussichtslosigkeiten, denen zu entgehen die Menschen aus Europa ausgewandert waren, fort – oder bilden sich neu aus. Die junge Mutter, die sich auf der Baustelle eines gerade entstehenden Wolkenkratzers in den Tod stürzt, dessen „hohe Gerüststangen für den weitern Bau, allerdings noch ohne Verbindungshölzer, zum blauen Himmel ragten“, ist in der Logik des Romans ein Opfer der brutalen Bedingungen eines wirtschaftlichen Booms, der bis dahin in der Weltgeschichte ohne Beispiel war.
„Viele Ziegel rollten ihr nach und schließlich eine ganze Weile später löste sich irgendwo ein schweres Brett los und krachte auf sie nieder.“
Zunächst die abendliche Odyssee der Mutter nach einem Schlafplatz für sich und das Kind, in New York während eines Schneesturms, das Irren der beiden durch die Straßen, die Mutter ohne Arbeit, ohne Geld, das Durcheilen der „engen, eisigen Korridore“, das wahllose Anklopfen an Türen, die „erstickende Luft“ aus den offen stehenden Zimmern, überall ist keine Bleibe für sie, und schließlich weiß Therese nicht mehr, ob sie in den vergangenen Stunden in „zwanzig Häusern oder in zwei oder gar nur in einem Haus gewesen waren“.
Einmal presst die Mutter dem Kind die Lippen schmerzhaft ins Gesicht, dann wieder wird es „ohne ein kleines Wort des Trostes mitgeschleift“. Man muss auch unter amerikanischen Autoren lange suchen, um eine vergleichbar eindringliche Szene zu finden, die das Elend der Neuen Welt, des Molochs New York, der kapitalistischen Gesellschaft so bildkräftig einfängt. Dieser Roman ist von sozialistischem Geist beseelt, wie es ja auch Kafkas berufliche Aufgabe war, die Anliegen der Arbeiterklasse zu vertreten.
Fortsetzung folgt
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