Rudolf Jöckle über „Europas Generalmusikdirektor“
Der Dirigent Herbert von Karajan wurde am 5. April vor 100 Jahren in Salzburg geboren. Vor knapp 20 Jahren war der Maestro in seiner Geburtsstadt gestorben, ein Tod, der die Musikwelt, wie auch immer, tief berührt hat. Inzwischen freilich glauben manche Auguren der Klassik-Szene zu erkennen, dass es mit dem Interesse an Karajans Erbe auch nicht mehr weit her sei.
Das mag bei den verfilmten Opernproduktionen stimmen, die waren ohnehin nie ein Erfolg, ganz sicher nicht jedoch bei den Schallplatten: Über 800 Tonträger hat er, vornehmlich mit der Deutschen Grammophon, produziert, und seine Labels versichern, dass man von deren Verkauf – etwa 30 Prozen Anteil am Gesamtvolumen – unverändert profitiere. Wobei auch Zeitgenössisches entgegen der landläufigen Meinung – Hindemith, Webern, Schönberg, Henze und andere – würdig vertreten ist. Dass Karajan bei der Vorstellung der ersten CD seinerzeit in London dabei war, bestätigt nur den „technischen“ Vorsprung, den er durch die Förderung, ja den Antrieb von Innovationen im Musikbetrieb besass.
Karajans Verführungskräfte, wenn man es so sagen darf, scheinen ungebrochen, und diese Kräfte verlassen sich ja nicht allein auf den engen Bereich der Interpretation. Man hat ihn nicht nur als „Dirigenten des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet, als eines „der grössten Genies seiner Zeit“, wie es der Schweizer Rolf Liebermann, Komponist wie Intendant, tat. Zur übergrossen Gestalt, zum „Generalmusikdirektor Europas“, wie die „Basler Zeitung“ meinte, wurde er durch das Musikimperium, das er sich konsequent schuf: Salzburger Festspiele, später die eigenen Osterfestspiele, die Scala, eine feste Position mit der Met, die Festwochen Luzern, um wenigstens einiges zu nennen. Und natürlich die Berliner Philharmoniker, die er seit 1955 nach seinen Vorstellungen zum Spitzenorchester formte. Und die er im Streit um die vom Orchester abgelehnte junge Klarinettistin Sabine Meyer verliess – eine Trennung, die er nicht mehr verwinden konnte.
Freilich war er damals, an seinem 80. Geburtstag, schon krank, stark behindert durch Bandscheibenleiden und Schäden im Knochengerüst. Solche Leiden hatten ihn länger begleitet, seine Freizeit von St. Moritz bis St. Tropez mit Segeljacht, Skifahren, schnellen Autos oder Flugzeugen belastet. Wobei solche Aktivitäten für ihn, in dritter Ehe mit Eliette Mouret verheiratet und Vater zweier Töchter, keine Spiele mit dem Jetset waren – diese Klientel war ihm, dem introvertierten Privatmann, fremd. Was er genoss, war die Technik, die er einsetzen konnte, auch wohl als Ausgleich zur Orchester- und Bühnenarbeit zu verstehen. Innovationen und technische Präzision waren Dinge, die ihn jedenfalls zeitlebens faszinierten.
Einen „Präzisionsfanatiker“ hat ihn denn auch August Everding genannt, und zugleich einen „romantischen und begnadeten Dirigenten, der sowohl ein technischer Tüftler war als auch ein Genie des Ausdrucks …“ Ein Magier, dem sich die Konzertbesucher und CD-Käufer bedingungslos hingaben, gegen dessen Verlockungen nicht wenige Musikkritiker sich entschieden wehrten und dabei auf die Ambivalenz des modernen Dirigenten zwischen heiliger Tonkunst und „Kommandozentrale“ verwiesen. Karajans Dirigierstil, bei stets geschlossenen Augen die Partitur „im inneren Auge“ abrufend, Präzision hier, Innerlichkeit dort beschwörend, gab dazu das scheinbar genaue äußere Bild. Entsprechend kamen die Verweise etwa von der „Weichheit der Binnenstruktur“, vom Verschmelzen der Farben, das klare Strukturen verhindere, bei „elegisch auszelebrierter Ausdruckskurve“ ohnehin.
In der Tat aber „entwickelte“ sich Karajan durchaus hörbar, vom schlanken, nervigen Klang der frühen Jahre, vor allem bei den jüngst „restaurierten“ Aufnahmen mit dem Philhamonia Orchestra London, zu dem ihm Walter Legge holte, über den späteren „Breitwandklang“, oft grüblerisch sich versenkend oder im Übermass der Effekte, bis hin zum härteren, nun wieder aggressiveren Zugriff der letzten Jahren, in denen „Schönheit“ zurücktreten musste – und dennoch immer und geheimnisvoll wirksam blieb.
Uns aber ist die Chance geblieben, solche Entwicklungen mitzuerfahren, ihre Größe etwa in Mozarts „Figaros Hochzeit“ von 1952 aus Wien und mit einem nie mehr erreichbaren Sängerensemble: London, Schwarzkopf, Seefried, Jurinac, Kunz; oder – als Gegenstücke – in den späten Aufnahmen, etwa von Mahlers 9. Sinfonie mit den Berliner. Und auch die Begegnungen mit dem „Blow up“ des Maestro werden nicht fehlen. Herbert von Karajan, so dürfen wir vermuten, wird uns doch noch einige Zeit bewegen.
Links
Herbert von Karajan zum 100. Geburtstag: Ein Dirigent wird besichtigt (14-teilige SWR2 Musikreihe)