Folge 883
PJ liest: Catarina Katzer: Cyberpsychologie – Leben im Netz: Wie das Internet uns ver@ndert
Länge: 07:27
Wenn ich eine Flatrate habe, kann ich erwarten, daß an meine niedrigsten Instinkte appelliert wird – so könnte man in Abwandlung eines Satzes von Kurt Tucholsky formulieren. Denn das Netz bringt sie zutage, die Emotionen, die Neugier, die Sensationslust, die Neigungen, die man sonst im „wirklichen Leben“ sozial kontrolliert im Zaum hält.
Hervorgerufen wird dies unter anderem durch steigenden Kontrollverlust bei wachsender Internetnutzung, meint Catarina Katzer. Die Psychologin nimmt uns mit auf eine tour de raison durch die Höhen und Tiefen des immerhin recht neuen Mediums (schließlich wurde es erst 1990 am CERN in Genf entwickelt). Die Währung des neuen System ist „Aufmerksamkeit“. Diese kann – trotz zunehmender Multitasking-Fähigkeiten – nicht beliebig verteilt werden. Ein Beispiel:
„Neue Studien zur Laptop-Nutzung von College-Studenten während der Vorlesung zeigen eindeutig, dass diejenigen, die einen Laptop zur Verfügung hatten, durch E-Mail, Instant Messaging und andere Webangebote stark abgelenkt waren. Sie konnten der Vorlesung nicht richtig folgen, sie konnten sich zum Großteil an die Inhalte der Veranstaltung nicht erinnern, und die Aufzeichnungen, die sie während der Vorlesung machten, waren sehr fehlerhaft und unvollständig.“
Als weiteres problematisches Phänomen sieht die Autorin den Verlust des Realitätsbezugs. Denn während wir im analogen Leben automatisch einen Check-up mittels unserer Erfahrung, unserer Kenntnisse und unseres Wissens machen, wird dieser im Internet vom digitalen Gedächtnis, also Google und Co übernommen. Die Folge: Eine Wahrnehmungsverwirrung. Zudem führt die Gleichzeitigkeit im Netz dazu, daß wir unsere traditionelle Zeitwahrnehmung verlieren, wir können immer weniger zwischen realer und virtueller Zeit unterscheiden.
„Wir agieren zwar im realen Jetzt, handeln aber im virtuellen, wo es keinen Zeitverlauf gibt. Und der Körper bleibt an Ort und Stelle, denn er reist ja nicht mit in den digitalen Raum. … Dies führt dazu, daß wir im Netz abtauchen und gar nicht merken, wie viel Zeit wir tatsächlich hier verbringen. Schauen wir dann aber auf die Uhr, bemerken wir: Oh Gott, ich war ja drei Stunden on. Es kommt also zu einem Clash zwischen Internet-Zeit und Jetzt-Zeit!“
Andererseits unterbrechen Smartphone-Süchtige alle sieben bis acht Minuten ihren Alltag, um einen Blick auf das Gerät zu werfen; man könnte ja was verpassen. Dieser Druck, ständig online zu sein, wird zunehmend als Stress empfunden. Gleichzeitig ist man bereit, in sozialen Netzen deutlich mehr von sich preiszugeben, als in einem realen Gespräch. Die Situation zu Hause vor dem Bildschirm suggeriert eine verführerische Intimität, die leichtsinnig macht. Interessanterweise achten die Köpfe von Facebook, Instagram, Paypal, Snapchat, etc. peinlich darauf, daß von ihrem Privatleben nichts an die Öffentlichkeit gelangt – abgesehen von dem, was sie posten der posten lassen. Sie fordern Transparenz und Offenheit und halten sie selbst nicht ein …
Ein besonders gravierender Aspekt ist für die Psychologin Katzer das Thema „Denken und Vergessen“. Schließlich können Wikipedia und Co das Gedächtnis entlasten, man kann online alles Wissen abfragen und wir selbst brauchen nicht mehr so viel Wissen im Gehirn anzuhäufen. Allerdings mit einem unschönen Effekt.
„Wenn wir das Internet immer stärker als Gedächtnisersatz gebrauchen, besteht die Gefahr, dass unser Langzeitgedächtnis auf der Strecke bleibt. Es wird zunehmend leerer – und wir geistig ärmer. Wir benötigen unsere Erinnerungen gerade auch beim Verstehen und Lernen neuer Situationen. … Je weniger Erinnerungen wir aber haben, um so schwerer wird es für uns, komplexe Zusammenhänge zu verstehen.“
Die Wissenschaftler schauen interessiert auf die Heranwachsenden im pubertierenden Alter, denn erstmals existiert eine Generation, die von Geburt an mit dem Internet aufgewachsen ist. So verfügten 2013 in den USA drei Viertel der 0 – 8jährigen über einen mobilen Internetzugang, 63% hatten bereits ein eigenes Smartphone. Wie diese mit dem virtuellen Leben umgehen, wie sich ihr Charakter in ihrem Avatar, ihrer Netzindividualität widerspiegelt, darauf gibt es schon Hinweise.
„Die Mehrheit der Menschen handelt im Netz genauso wie im realen Leben. Der Mobber bleibt ein Mobber, der Pädosexuelle bleibt pädosexuell. Der good guy mutiert also nicht automatisch zum bad boy. Wenn wir allerdings eine dunkle Seite haben, dann macht es das Internet leicht, sie auszuleben.“
Alle Facetten des menschlichen Lebens finden sich so im Netz wieder, wobei die Grenzen zwischen dem „richtigen Leben“ und dem Cyberspace zunehmend verschwimmen. Überall hat das Internet seine virtuelle Hand im Spiel.
Das Buch „Cyberpsychologie“ ist keine leichte Kost, beleuchtet es doch die Verästelungen der menschlichen Psyche in den unterschiedlichsten Bereichen wie Selbstdarstellung, Ich-Suche, dem Wunsch nach Nähe, Freundschaft, Liebe oder Glück. Starke, essentielle Emotionen, die uns ins Netz saugen; mit dem Effekt, daß wir uns „lost in time and lost in space and meaning“ (Rocky Horror Picture Show) fühlen. Für Catarina Katzer bedeutet dies:
„Wir benötigen ein neues Zeitmanagement für unsere Psyche, um im Netz nicht unterzugehen. Die „Echtzeit“-Strategien von Google und Co können wir nicht ewig aushalten. Nach „Fair Trade“ sollte sich nun endlich eine Bewegung „Fair Time“ bilden. Auf Slow Food muß nun Slow Communication folgen. Wir müssen wieder Herren unserer Zeit werden.“
Diese Umwälzung läßt leider auf sich warten. Bislang bestimmt lediglich die Person vor dem Display, was das Netz mit ihr macht. Denn das ist der zentrale Punkt: Das Internet macht zwar etwas mit uns, verändert unser Leben und uns; doch wir bestimmen ebenso, was wir mit dem Internet machen. Und das ist unsere Chance, die wir nutzen sollten, nutzen müssen – es ist unsere einzige.
Text und Podcast stehen unter der Creative Commons-Lizenz BY-NC-ND 4.0
Quelle: SchönerDenken (Direkter Download der Episode über rechte Maustaste)
Catarina Katzer
Cyberpsychologie
Leben im Netz: Wie das Internet uns ver@ndert
dtv, 16,90 Euro
978-3-423-26092-3