Götz verbringt einen Sommer mit Gantenbein, dem Grünen Heinrich, Brunetti und Kyros – vierter und letzter Teil
In der zweiten Ferienwoche verbrachte ich viel Zeit damit, ein Reiseziel für die dritte Ferienwoche zu finden. Nach längeren Recherchen im Internet und erfolglosen Telefonaten mit verschiedenen Unterkünften, entschied ich mich spontan für ein Hotel auf einer der Inseln der niederländischen Provinz Zeeland.
Bücher leiten uns zu Büchern: Führte mich nicht Brunetti zur „Anabasis“ von Xenophon oder war es Paul Celan, der ein Gedicht geschrieben hat, das diesen Titel trägt? In Donna Leons Roman „Feine Freunde“ liegt Brunetti an einem Samstagvormittag zuhause auf dem Sofa und liest Xenophons Darstellung des Rückmarschs griechischer Söldnertruppen von einem Feldzug in Persien. Die Griechen kämpfen im Dienste des Kyros, eines Sohns des persischen Großkönigs Dareios II., der seinem älteren Bruder Artaxerxes den Thron streitig machen will. In Mesopotamien kommt es zu einer großen Schlacht. Die Griechen siegen zwar, doch Kyros stirbt.
Somit ist das Unternehmen gescheitert und die Söldner müssen sich auf den langen Weg nach Hause begeben. Mitten im Winter müssen sie die raue Bergwelt Armeniens durchqueren, immer wieder kommt es zu Kämpfen gegen die Perser und wilde Bergstämme. Nach maßlosen Qualen erreichen sie endlich im Februar des Jahres 400 vor Christus die Küste des Schwarzen Meeres. Berühmt die Stelle, als sie von einer Berghöhe aus erstmals die See erblicken und zu Tausenden voller Freude ausrufen:
„Thalatta! Thalatta! (Das Meer! Das Meer!)“.
Einige Monate zuvor hatte ich mir die „Anabasis“ als Reclam-Heftchen gekauft. Seither hatte sie geduldig, eingezwängt zwischen anderen Büchern, auf meinem Schreibtisch gewartet. Bis zu diesem Augenblick also, als ich dachte: „Das wäre doch die rechte Lektüre am Strand“ – und das gelbe Büchlein in meine Reisetasche steckte. Wieder hatte ich beim flüchtigen Blättern eine Passage entdeckt, die ich großartig fand und zum Maßstab für das übrige Buch nahm, dessen Lektüre sich dann aber mühevoll anließ. Ich strich mir die Stellen mit Bleistift an, die mich fesselten, doch es waren wenige und ich mochte es nicht abwarten, bis jener Marsch der Griechen durch die wilde Bergwelt begann, für den Xenophons Erzählung so berühmt ist. Immer wieder ertappte ich mich am Strand dabei, dass ich vorblätterte, um zum Beispiel folgendes zu lesen:
„Während sie aber schliefen, fiel jedoch so unermesslich viel Schnee, dass er die Waffen überdeckte und die Menschen, die am Boden lagen. Auch die Lasttiere behinderte der Schnee. Nur mit großem Unwillen standen die Leute auf; denn wenn man auf dem Boden lag, war der Schnee eine wärmende Hülle für jeden, dem er nicht herabgeglitten war.“
Als die Woche am Meer vorüber war, war Kyros zwar im Kampf gefallen, doch die Griechen befanden sich noch in einem Stadium der Unentschlossenheit. Sie wussten nicht, wie sie sich aus ihrem Schlamassel befreien sollten. Und ich ließ sie darin und musste mich der betrüblichen Erkenntnis stellen, dass meine Ferien zu Ende waren, ich aber in diesen Ferien kein einziges Buch zu Ende gelesen hatte. Zu Hause lagen seit Wochen zwei Romane auf dem Schreibtisch, auf die ich mich freute: „Das Ufer der Syrten“ von Julien Gracq und „Rot und Schwarz“ von Stendhal, doch ich verbot es mir, mit einem von beiden anzufangen. Wie so oft schob ich gerade die Lektüre, von der ich gewiss war, dass sie mir am meisten behagen würde, auf.
Doch ich musste zunächst mit meinen angebrochenen Werken zu Rande kommen. Sie endgültig abzubrechen: das kam nicht in Frage, denn ich hatte ja noch immer das Gefühl, dass es einen Sinn machte, mich durchzubeißen. Danach würde ich viel unbefangener und mit umso größerer Freude ein neues Buch zu Hand nehmen können. Das Lesen darf ja nicht zum Ausprobieren verkommen. Im Grunde bin ich der Auffassung, dass die Entscheidung für ein Buch vor und nicht während der Lektüre fallen muss. Während ich also diesen schwierigen Leseverhältnissen die Treue hielt, war ich naturgemäß allerlei Versuchungen ausgesetzt: Jemand wies mich auf Rüdiger Safranskis neues Buch über die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller hin und mir fiel ein, dass ich ja auch schon das vorherige Buch des Autors über die Epoche der Romantik gerne einmal gelesen hätte.
Ein anderer Freund erzählte mir, mit welcher Begeisterung er sich während des Studiums mit Faulkners „Absalom, Absalom“ beschäftigt hatte, wie der Text nachher vor lauter Anstreichungen, Einfärbungen und Randnotizen kaum noch lesbar gewesen sei. Und ich dachte: Du musst sofort „Absalom, Absalom“ lesen. Das ist es. Das ist jetzt das Buch der Stunde. Vom Besuch der Buchhandlungen, die ich nur noch im Habitus des Ignoranten zu betreten vermag, ganz zu schweigen. Deren Gewässer befahre ich erst, sobald ich an den Mast gefesselt bin wie Odysseus.