Melville Short Cuts I.

Erster Teil „Was jenseits des menschlichen Wissens liegt“
von Götz Kohlmann
Podcast 42

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„Nahm um halb elf den Zug nach Wiesbaden, stieg aber versehentlich in Mayence aus…“ (Herman Melville, Reisetagebuch, 23. April 1857)

Vielleicht sind jene Romane der Weltliteratur die großartigsten, von denen auch verkürzte Kinder- und Jugendbuchversionen kursieren. „Don Quichotte“, „Huckleberry Finn“, „Die Schatzinsel“, „Robinson Crusoe“ und natürlich „Moby Dick“ gehören dazu. John Hustons „Moby Dick“-Version mit Gregory Peck als Kapitän Ahab halten viele Kritiker für misslungen. Tatsächlich lässt sich der Roman aber wohl kaum besser verfilmen. In mir hat der Film jedenfalls seinerzeit den Wunsch geweckt, das Buch zu lesen. Die ungekürzte Ausgabe, die ich dann bekam, langweilte mich bald. Ich las wohl nur die ersten und die letzten Kapitel. Bis heute klingt mir das Klopfen von Ahabs Holzbein auf den Schiffsplanken im Ohr und bis heute habe ich beim Lesen die Darsteller des Films vor Augen.

„Dollars sind mein Fluch“,

schrieb Melville an den mit ihm befreundeten Schriftsteller Nathaniel Hawthorne. Mit „Moby Dick“ trotzte er diesem Fluch und teilte zugleich seinen puritanischen Landsleuten mit, dass sie mit ihrem angeblich gottgefälligen Gewinnstreben auf dem falschen Dampfer Richtung Zukunft unterwegs waren.

Die Keimzelle Ahabs: vielleicht der Vater, Alan Melvill, der vor den Augen des zwölfjährigen Sohnes krank wurde und im Fieberwahn auf elende Weise starb, einige Tage nach einem winterlichen Gewaltmarsch über den zugefrorenen Hudson River, ein letztes Mal unterwegs, um sich irgendwo Geld zu borgen. Und Ismael, der unbeteiligte Beobachter und Erzähler? Das ist natürlich Melville selbst, der ja auch als Hilfslehrer arbeitete, bevor er zur See fuhr. Aber ebenso ist Melville der fanatisch und gottlos nach Erkenntnis strebende Ahab, war er doch von der Literatur und philosophischen Fragen nicht minder besessen als der alte Kapitän von der Jagd nach dem weißen Wal.

An Neckar, Main und Rhein: 1857 unternahm Melville eine Reise in den vorderen Orient, nach Griechenland und Italien. Über die Schweiz gelangte er auf der Rückreise nach Deutschland. In seinem Tagebuch hielt er in Stichworten seine Eindrücke fest. Unter dem Datum Montag, 21. April, heißt es unter anderem:

„Baden. Per Bahn nach Heidleburgh. Kalifornier. Wunderschöner Nachmittag. Ebenes, von Hügeln gesäumtes Land. Sehr fruchtbar….Erreichte um 8 Uhr abends Heidleburgh. Hotel Adler.“

Am 22. April besichtigt er vormittags die Stadt:

„Bestieg um 2 Uhr mittags den Zug nach Frankfort am Maine. … Das Land ebenso flach & fruchtbar wie auf der ganzen Fahrt seit Basel.“

In Frankfurt begibt er sich gleich auf eine Rundfahrt durch die Stadt:

„Goethes Standbild. Fausts. Der Dom. Die Stelle, wo Luther predigte. Das Flussufer. Park. Das Judenviertel. Rothschilds Haus.“

(Das Denkmal Goethes befand sich am Alten Rossmarkt. Es wurde im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt. Figuren aus Goethes Werken, so auch Faust und Mephisto schmückten als Reliefs den Sockel) Am Mittwoch, 23. April, werden erneut Rothschilds Bank und „Fausts Statue“ erwähnt. Gegen Mittag geht es weiter:

„Nahm um halb elf den Zug nach Wiesbaden, stieg aber versehentlich in Mayence aus – um 2 Uhr. Weiter mit dem Schiff nach Cologne. Mayence liegt in der Ebene, dehnt sich aber weit aus; prächtiger Dom & schöne Häuser. Fuhr durch das Land des Rheinweins.“

Um 10 Uhr abends erreichte er Köln. Einige Monate zuvor auf dieser letzten großen Reise eines der größten Reisenden, im Dezember in Ägypten, fasst der Metaphysiker Melville seine Erschütterung angesichts der Pyramiden von Gizeh in solche Sätze:

„Der Mensch scheint mit ihnen ebenso wenig zu tun gehabt zu haben wie die Natur. Es war jenes übernatürliche Wesen, der Priester. Sie müssen furchtbare Erfinder und Baumeister gewesen sein, jene ägyptischen Magier.“ […] „Mit der Pyramide ist es wie mit dem Ozean: man lernt in den ersten fünf Minuten fassungslosen Starrens ebensoviel über seine Unermesslichkeit wie man es in einem Monat täte.“

Zu Beginn der Reise hatte er Hawthorne in Liverpool besucht. Jahrelang hatten sich die einstigen Nachbarn und Freunde nicht mehr gesehen. Beide fremdeln zunächst, doch schon bald haben sie zu ihrem

„früheren geselligen und vertrauensvollen Verhältnis zurückgefunden“,

wie Hawthorne schreibt. Mehrere Tage wohnt Melville bei Hawthorne, der seit 1853 das Amt des amerikanischen Konsuls in Liverpool innehat. Einmal begeben sich beide auf eine Wanderung in den Dünen. Sie setzen sich in eine Mulde und laut Hawthorne

„hub Melville an, wie er es immer tut, über die Vorsehung und das Zukünftige zu spekulieren und über alles, was jenseits des menschlichen Wissens liegt…“ – „Alles, was jenseits des menschlichen Wissens liegt“

– das ist es, was Melville zeit seines Lebens umtrieb und was Moby Dick verkörpert. Ahabs Jagd ist eine Jagd nach letzter Erkenntnis, nach Gottgleichheit. Gegen Ende, am Tag, bevor der tödliche Kampf mit Moby Dick beginnt, vergleicht Melville den Alten mit einem verwitterten Obstbaum,

„der seinen letzten, verdorrten Apfel zu Boden wirft.“

Um die Bedingtheit der menschlichen Erkenntnis geht es also. Als Ahab einen Blick auf Queequegs nackten, mit Tatoos übersäten Körper wirft, leidet er „Höllenqualen“, ein kleines Echo, eine Variation des großen Themas. Denn:

„Diese Tätowierung war das Werk eines verstorbenen Propheten und Sehers seiner Insel gewesen, der ihm mit solchen Hieroglyphen eine ganze Theorie des Himmels und der Erde, einschließlich einer mystischen Abhandlung der Erkenntnistheorie, auf den Leib geschrieben hatte, so dass Queequeg in eigener Person ein Rätsel war, ein seltsames Werk in einem Band, dessen Geheimnisse er aber selbst nicht zu entziffern vermochte, wenn auch sein eigenes lebendes Herz dagegen schlug; und so waren diese Geheimnisse letzten Endes bestimmt, mit dem lebenden Pergament, auf das sie geschrieben waren, zu vermodern und für immer ungelöst zu bleiben.“

Hawthorne wundert sich über das geringe Gepäck, mit dem Melville seine lange Reise antritt, bloß eine einzige Tasche. Im Tagebuch kommentiert er dies:

„Das ist fast so, als ginge man nackt; aber mit seiner Barttracht braucht er kein Necessaire – nur eine Zahnbürste – ich kenne keinen unabhängigeren Menschen. Er hat diese Art zu reisen gelernt, als er in der ganzen Südsee umherstreifte, ohne Kleidung oder Ausstattung, nur mit einem roten Flanellhemd und einer Leinenhose. Und dennoch treffen wir nur selten jemanden, dessen Manieren weniger zu beanstanden wären.“

Im zweiten Teil erkärt Götz, warum Moby Dick eine ungeheure Lücke in der Weltliteratur hinterlassen würde, wenn es ihn nicht gäbe.

Sprecher: Axel Weiss

Moby Dick auf der Bühne

“Von Möwen und Walen: oder: Moby Dick” ist zu sehen in den Mainzer Kammerspielen, Termine: 23. Mai, 24. Mai.
Hier die Autoren im Videointerview (inkl. Probenausschnitte) und eine Lesung aus dem Stück und hier das komplette Audiointerview.

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