Folge 912
Als Einführung ein kleines Gespräch zwischen Götz und Thomas über das Besondere an Kundera und seiner Literatur
Länge: 15:05
Soll man noch schreiben? Soll ich noch schreiben? Und wie kann man/ich noch etwas Relevantes, Dauerhaftes schreiben, was nicht bloß einen Markt bedient und nicht nur einer Erfolg versprechenden Rezeptur folgt? Fragen, die heute kein ernsthafter Schriftsteller mehr umgehen kann und die Milan Kundera mit seinem neuen Buch auf eine unverwechselbare Weise beantwortet hat. Wir begleiten vier (plus zwei) nicht mehr allzu junge Männer für eine kurze Zeit in ihrem alltäglichen Leben in Paris. Da haben wir Alain, der zu Beginn angesichts der sommerlich bauchfrei gekleideten Mädchen in den Straßen über die erotische Bedeutung des Nabels nachdenkt.
Kundera verknüpft wie immer unnachahmlich Erzählung und Reflexion und lässt sofort die wiederkehrenden Themen des Romans anklingen: den Wandel der Geschichte, das Begehren, komplizierte Mutter-Sohn-Beziehungen. Dann tritt Ramon auf, der gerne eine Chagall-Ausstellung im Musée du Luxembourg sehen würde, aber vor der langen Besucherschlange am Eingang zurückschreckt. Das nächste der kurzen, mit Titeln versehenen Kapitel widmet sich D’Ardelo, der die Treppe zur Praxis seines Arztes hinaufsteigt und mit einer Krebsdiagnose rechnet. Im Folgenden lernen wir Charles kennen, der von einem Theaterstück für Marionetten träumt und sich sein Geld mit einem Party-Catering verdient, wobei ihm der arbeitslose Schauspieler Caliban hilft. Und schließlich gibt es noch Quaquelique, einen großen Schürzenjäger und Bedeutungslosen, wie er von Ramon charakterisiert wird. Quaquelique wisse, so Ramon, dass es beim Verführen von Frauen schädlich und nutzlos sei, brillant zu sein – und auf diese Weise beginnt Kundera die schon im Titel angedeutete Grundidee des Buches zu entfalten. „Die Helden stellen sich vor“ heißt der erste von sieben Teilen des schlanken Romans.
Im Weiteren wechselt die Perspektive ständig vom einen zum anderen und einige Szenen versammeln auch zwei oder mehrere der Freunde. Kundera spielt mit vielen Romantraditionen und führt die literarische Freiheit der Gattung wie in einem Nachhall früherer Großtaten dem Leser als erzählerisches Resumee noch einmal heiter vor. Als „unser Meister“ taucht der Erzähler in den Gesprächen der vier zentralen Helden auf und er wendet sich auch mal klassisch-auktorial selbst an den Leser:
„Die vier Kameraden, mit denen ich Sie bekannt gemacht habe, Alain, Ramon, Charles und Caliban, liebe ich.“ Oder er kommentiert sein Schreiben: „Ich wiederhole mich? Ich beginne das Kapitel mit denselben Worten, die ich ganz am Anfang des Romans benutzt habe? Ich weiß.“
Die „Helden“ sind gelassene Sinnsucher, die den Sinn zwar finden wollen oder gefunden zu haben glauben, aber nicht um jeden Preis mehr finden müssen. Die kurzen Episoden, die „Short Cuts“ des Textes, erinnern an den Aufbau mancher Filme von Eric Rohmer oder Jacques Rivette und vor allem an die späteren von Alain Resnais, in denen sich Alltagsszenen wie im Guckkasten eines Theaters abspielen. Mühelos ließe sich dieses Werk des einstigen Studenten an der Prager Filmakademie in ein Drehbuch verwandeln.
Die Geschichte als absurdes Theater
Der „Meister“ hat Charles das Buch „Chruschtschow erinnert sich“ geschenkt. Und Charles, fasziniert von einer Anekdote, die Chruschtschow über Stalin erzählt, will daraus ein Stück für das Marionettentheater machen. Auf diesem Weg, indem Charles Geschichten aus dem engsten Kreise Stalins referiert und sich Szenen seines Marionettentheaters ausmalt, nähert sich der seit 1975 in Frankreich lebende Tscheche Kundera scheinbar unbeschwert einem für sein Leben und Werk so bestimmenden Thema: der kommunistischen Herrschaft. Jene Epoche, in der in Stalins Umgebung „niemand mehr wusste, was ein Witz ist“, ist allerdings in diesem Roman nur noch eine Fundgrube lachhafter, absurder Anekdoten. Kundera blickt zurück auf das Jahrhundert der gescheiterten Ideologien, so weise und souverän, wie dies nur jemand vermag, der die aus diesen Ideologien entsprungenen Schrecken an sich erfahren und ihre Mechanismen durchschaut hat. Alles, was die Zeitgenossen als geschichtliche Gewalt erleben, endet in ferner Zukunft einmal im Theater und im Kinderspiel. Kundera lässt die Protagonisten dieser Gewalt wie ein Zauberkünstler kurz in seinem Bühnenlicht aus dem Ärmel fliegen und verschwinden.
Ist es nicht verharmlosend, in den „Greueln“ und im „schlimmsten Unglück“ Bedeutungslosigkeit wahrzunehmen, ist es nicht empörend, die Gleichgültigkeit zu feiern, mit der die Parkbesucher an den Skulpturen historischer Persönlichkeiten vorüberschlendern? Doch es geht hier um eine Bedeutungslosigkeit höherer Art, zu der Kundera sich ausgerechnet Hegel als Gewährsmann heranholt, den Urheber des Gedankens der Dialektik in der Geschichte, dessen Philosophie Marx auf die politischen Umstände anwandte. Der Witz ist, dass Kundera Hegel – dessen Denken für Kritiker eine Basis der totalitären gesellschaftlichen Experimente im 20. Jahrhundert war – hier zum Paten einer ganz anderen Utopie macht, einer Philosophie der „guten Laune“, die die Alltagspoesie und das individuelle Schicksal ins Zentrum der Geschichte rückt. Von solch einer abgründigen Ironie ist dieses Buch immer wieder durchwirkt. Wir leben in einer utopiemüden Zeit, zurecht würde man nach den Erfahrungen der Vergangenheit meinen, doch Kundera zeigt auch, dass der Mensch und diese Welt, wie sie ist, ohne Ideale und Projektionen des ganz Anderen nicht auskommen können.
„Und Ramon fuhr fort: „Oh, die gute Laune! Hast du jemals Hegel gelesen? Natürlich nicht. Du weißt nicht mal, wer das ist. Aber unser Meister, der uns erfunden hat, zwang mich einst, ihn zu studieren. In seiner Reflexion über das Komische sagt Hegel, der wahre Humor sei undenkbar ohne die unendliche gute Laune, hör gut zu, was er wörtlich sagt: ‚die unendliche Wohlgemutheit’. Nicht der Spott, nicht die Satire, nicht der Sarkasmus. Nur von den Höhen der unendlichen guten Laune kannst du unter dir die ewige Dummheit der Menschen beobachten und darüber lachen….Aber wie findet man sie, die gute Laune?“
Ramon wird sie finden, indem er sich einfach auf einer Party mit Whisky betrinkt. Auch eine große Portion Selbstironie gehört zum Repertoire des über achtzigjährigen Autors dieses kleinen Romanwunders.
Ein großer Dichter ohne Werk
In dem frühen Wenders-Film „Falsche Bewegung“ sagt einer, der Schriftsteller werden will: „Ich möchte etwas schreiben, was ganz und gar notwendig ist, wie ein Haus.“ Manchmal in den Buchhandlungen angesichts der ständigen Flut an Neuerscheinungen kann einem schon der Gedanke kommen, ob es nicht auch bei den Schriftstellern einmal ein Innehalten geben sollte, ein Nicht-mehr-schreiben, zumindest Nicht-mehr-publizieren. Aber man weiß ja, es ist ein Markt, der Nachschub braucht. Doch dieser Markt hat mit dem notwendigen Schreiben, an das die Wenders-Figur denkt, weitgehend nichts zu tun. Der Alain in Kunderas Roman wäre auch gerne ein Dichter geworden. Nun hat er aber eine gut bezahlte Arbeit und eine junge Freundin, die „nicht das geringste Interesse für das hatte, was sich vor der Zeit ihres eigenen Lebens getan hatte“, sprich sie hat kein Interesse an den berühmten Künstlern der Vergangenheit. „Gibt es das denn noch, Dichter?“ fragt sich Alain und nimmt sich vor, an seinem Geburtstag
„mit seinen Freunden seinen Ruhm zu feiern, den Ruhm des sehr großen Dichters, der, dank seiner demütigen Verehrung der Poesie, geschworen hatte, nie einen einzigen Vers zu schreiben.“
Tatsächlich, mehr von so einer Bescheidenheit und Demut täte dem Literaturbetrieb gut, wobei sich Alains Geste des Verzichts ja nicht gerade bescheiden ausnimmt. Ein sehr großer Schriftsteller, der nie einen Satz geschrieben hat: mit dieser Vorstellung schließt die Literaturgeschichte ihren Kreis, der mit Homer begann. Schriftsteller, die mehr oder weniger aufhören zu publizieren, gab es ja schon: Salinger, Koeppen. Schriftsteller, die sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen, aber noch publizieren, auch: Pynchon vor allen anderen, Botho Strauss. Wäre eigentlich schade, wenn sich Salingers schönem, überschaubaren Werk nun noch, wie es den Anschein hat, ein paar Romane aus der Truhe hinzugesellen würden. Gut, der Künstler will und muss schaffen, es ist seine Natur, sein Zeitvertreib. Doch ist das nicht in gewisser Weise obszön? Buch um Buch um Buch oder Bild um Bild um Bild. Alte Künstler scheinen oft mit ihrem gleichsam mechanisch gewordenen Produzieren bloß noch den Tod im Schach halten zu wollen. Kundera gehört nicht zu ihnen, er hat sich seit seiner letzten Veröffentlichung vierzehn Jahre Zeit gelassen.
Ein Dichter will nicht „Männchen“ machen
Der französische Schriftsteller Julien Gracq fragte sich schon 1950 in seinem bitter bis böse sarkastischen Essay „Die konsumierte Literatur“, „ob der Begriff Literatur nicht überhaupt Gefahr läuft, über kurz oder lang seine Integrität zu verlieren“. Bücher wie „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ sorgen dafür, diese inzwischen tatsächlich schwer beschädigte Integrität weiter aufrecht zu erhalten. Wie Gracq tritt Kundera als Autor ganz hinter sein Werk zurück. Gracqs schonungslose Analyse trifft heute mehr denn je zu, wenn er etwa vom „quälenden Verlangen nach großen Schriftstellern“ schreibt, von „Neuankömmlingen“, die sich „aufpulvern“ und „abarbeiten“, um auf der Höhe der Zeit zu sein, von Kritikern, die „Neuentdeckungen“ machen wollen, „koste es, was es wolle“, und er in der Welt der Literatur eine „rituelle und farbige Fiesta“ sieht, in der Schriftsteller nur noch für „Rundfunkquasseleien“ taugen oder mit Literaturpreisen überhäuft werden.
Man müsse „dem gruseligen Schauspiel“ jener ‚Schriftsteller’ ein Ende bereiten, „die von Geburt aus Männchen machen“. Gracq stand zu seinen Worten, machte nicht Männchen und lehnte kurz darauf den wichtigsten französischen Literaturpreis, den „Prix Goncourt“, für seinen Roman „Das Ufer der Syrten“ ab, was die Medien erst recht entrüstete, gewiss zu seiner Freude. Konsequent blieb er auch weiterhin, arbeitete bis zu seiner Pensionierung unter seinem bürgerlichen Namen Louis Poirier als Gymnasiallehrer, da so einer wie er als freiberuflicher Autor nicht gut hätte leben können und er den Lehrerjob wohl auch mochte, und zog sich im Alter in seinen kleinen Geburtsort an der Loire zurück. Inzwischen wird er als großer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts verehrt und sein Gesamtwerk in der berühmten „Bibliothèque de la Pléiade“ veröffentlicht, die der Verlag Gallimard herausgibt, der 1938 Gracqs erstes Buch abgelehnt hatte.
Literatur ist immer mehr als nur Worte, mehr als nur Sätze, die etwas aussagen; sie beginnt erst dort, wo die Wortfindung schwer fällt und die Schwere überwunden wird, um in die Eleganz eines Satzes zu münden, der auch ohne den vorherigen und den nächsten bestehen kann. Offenbar fällt es aber vielen Autoren zu leicht Worte zu finden. Entsprechend lang und geschwätzig sind dann ihre Bücher. Um ein Drittel, die Hälfte oder gar zwei Drittel gekürzt, ließe sich aus manchem etwas Brauchbares destillieren (das gilt vor allem für die nordamerikanische Literatur, die bei uns leider so gerne als Vorbild angepriesen wird), doch welcher Lektor arbeitet sich noch am Text ab und schlägt solche harten Einschnitte vor?
Kunderas Schreiben bewegt sich in eine andere Richtung als der üppig instrumentierte, beschreibungswütige, so genannte realistische Roman. Die Realität interessiert ihn, aber er will sie nicht abbilden, sondern benutzt sie als Ausgangsbasis für ein literarisches Spiel voller Esprit. In vielen Äußerungen blicken seine Protagonisten auf die Welt wie Rameaus Neffe in Diderots gleichnamigem Werk, der „seinen Geist seiner ganzen Leichtfertigkeit überlässt“ und vielleicht nicht von ungefähr mündet dieser so frivole wie melancholische Reigen in eine Reminiszenz an die Französische Revolution: ein Kinderchor singt im Jardin du Luxembourg die „Marseillaise“. Die Kinder sind womöglich die künftigen Revolutionäre, die die alten Werte der Aufklärung wieder mit Leben erfüllen werden. Doch das ist schon zuviel der Interpretation bei einem Werk von so funkelndem Zauber.
Es ist beseelt von jenem zutiefst humanen, komödiantischen Blick auf die Wirklichkeit, der auch das tschechische Kino früher auszeichnete. Kundera, der Sohn eines Musikwissenschaftlers und einstige Jazzmusiker, hat die Motive seines Divertimentos mit großer Raffinesse verwoben und variiert.
Das Recht der Lebenswelt
Das zentrale Thema der Bedeutungslosigkeit (oder Vieldeutigkeit? – man könnte auch sagen der „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“ – wie vielen großen Schriftstellern geht es Kundera im Grunde immer um einen einzigen Gedanken) wird in der Hauptszene, der Cocktailparty, durch eine kleine weiße Feder, die über den Gästen unter der Decke schwebt und zuerst von Charles bemerkt wird, symbolisiert. Jeder deutet dieses Zeichen anders. Charles kommt der Gedanke, es kündige sich damit die Ankunft jenes aus dem Himmel vertriebenen Engels an, den er im letzten Akt seines imaginären Stücks für Marionetten vorkommen lassen will. Ramon glaubt, dass die gute Laune ihn „von da oben“ endlich bemerkt hat und bei sich begrüßt. La Franck, eine schöne, legendäre Pariser Gesellschaftsdame, deren „Liebster“ vor kurzem gestorben ist, fängt die Feder auf ihrem erhobenen Zeigefinger und deklamiert, den Mund noch voller Kuchen:
„Der Himmel gibt mir ein Zeichen, dass mein Leben noch schöner sein wird als vorher. Das Leben ist stärker als der Tod, denn das Leben nährt sich vom Tod.“
Kundera beharrt auf dem Recht der „Lebenswelt“ (ein Ausdruck des Philosophen Edmund Husserl, den Kundera zu Beginn seines Essays „Die Kunst des Romans“ als Ausgangspunkt seiner Gedanken wählt), auf ihrem Schutz vor der Geschichte, der Politik, der Wissenschaft, der Technik. In Gracqs Pamphlet gegen den überhitzten Literaturmarkt finden sich ähnliche Überlegungen.
„Wenn er (der Mensch)“, heißt es da, „auch nur für einen Moment sein kleines, individuelles, aber wirkliches Paradies: die Gleichgültigkeit aufgibt, wird seine Aufmerksamkeit sogleich von tausend technischen, politischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen gevierteilt, die hinfort größte Aktualität besitzen …“
Für Kundera ist das Romanschreiben die „Erforschung“ des vergessenen Seins des Menschen. Der Roman erforscht das Alltagsleben der Menschen und schützt es vor der von Heidegger so definierten „Seinsvergessenheit“, die Folge der Moderne ist. Die Weisheit des Romans ist nach Kundera die „Weisheit der Ungewissheit“, die er vermeintlichen Gewissheiten und Dogmen entgegensetzt.
Die Lehre des Weinbrands
Viel teilt er nicht mit über seine Helden. Als ich am Ende der Lektüre angelangt war, wünschte ich mir ausnahmsweise einmal, es würde noch weiter und weiter so gehen und ich dürfte sie alle noch eine Weile durch ihr Leben begleiten, wohl wissend, dass dann vielleicht der Zauber verloren gehen würde, der in dieser Reduktion liegt, der intensive Geschmack, wie bei einem Weinbrand. Nicht von ungefähr kauft Alain eine Flasche Armagnac und macht sie zum Gegenstand der Verehrung. Kundera ist nun tatsächlich im Stadium jenes alten Dichters angelangt, von dem er in „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ erzählt. Der geht zu Beginn des vorigen Jahrhunderts mit seinem Adlatus spazieren und der Gehilfe sagt:
„Schauen Sie Meister, das erste Flugzeug fliegt über unsere Stadt!“ Und der Dichter sagt: „Ich kann es mir vorstellen.“
Diese Vorstellungskraft traut Kundera auch dem Leser zu.
Der Scherz, das Unbestimmte, die gute Laune sind die Elemente, aus denen sich hier eine luftige Utopie bildet. Eine der Figuren wird Caliban gerufen, doch Ariel aus Shakespeares „Der Sturm“ ist unsichtbar in diesem Werk noch sehr viel stärker präsent. Und ist es nicht so, dass die Freunde, die alle nur beim Vornamen genannt sind, auf einer Insel in der Zeit gestrandet scheinen, einer „Insel der Freiheit“, wie es einmal heißt; doch auch dies ist Ironie, da dort ihr „Meister“ (Kundera-Prospero) herrscht und sie an Fäden führt. Ramon, in trübseliger Stimmung, weil ihm das erhoffte Liebesabenteuer mit Julie entgangen ist, zweifelt aber, ob ihre neue Utopie genügend Kraft hat und nicht auch schon wieder bedroht ist:
„Wir haben seit langem begriffen, dass es nicht mehr möglich ist, diese Welt umzustürzen oder neu zu gestalten oder ihr unseliges Vorwärtsrennen aufzuhalten. Es gab nur noch einen einzigen möglichen Widerstand: sie nicht ernst zu nehmen. Aber ich stelle fest, dass unsere Witze ihre Macht verloren haben.“
Er fürchtet eine Epoche, in der es erneut gefährlich wird, Scherze zu machen, wie damals im kommunistischen System. In Kunderas frühem Roman „Der Scherz“ wird ein Student wegen einer kleinen Provokation aus der Partei ausgeschlossen, so wie es Kundera selbst geschah. Indirekt verweist er darauf in der Party-Szene, wenn Ramon Caliban, der aus Spaß an der Buffetausgabe nur ein erfundenes Pakistanisch spricht, um sich auf Kosten der Snobs zu amüsieren, vor einem Typen warnt, der sie beobachtet:
„Wenn ein Knecht der Wahrheit entdeckt, dass du Franzose bist! Dann wirst du natürlich verdächtig! Er wird denken, du hättest ganz sicher einen dubiosen Grund, deine Identität zu verheimlichen! Er wird die Polizei informieren! Du wirst befragt! Du wirst erklären, dass dein Pakistanisch ein Witz war. Sie werden lachen: Was für eine blöde Ausflucht! …“
Es ist ein Werk, über das niemand schreiben kann, es sei gut recherchiert oder es teile etwas über die Wirklichkeit mit, in der wir leben, oder sei das Buch einer Generation, oder stelle sich dem oder jenem Problem der Gegenwart, oder es bereite atemlose Spannung. Es stellt seine eigenen Gesetze auf, lässt sich nur mit seinen eigenen Maßstäben messen, ist unvergleichbar, wie das für alle große Literatur gilt. Nur eines ist klar: man sollte in ihm keine Bedeutung suchen.
Es sagt: um zufrieden zu leben, braucht es keinen Sinn. Es ist eine Absage an alle Ideologen, Fanatiker, Meinungsmacher und Diagnostiker. Es ist „against interpretation“ und „against political correctness“ geschrieben. Es ist ein „Fest der Bedeutungslosigkeit“.
Text und Podcast stehen unter der Creative Commons-Lizenz BY-NC-ND 4.0
Quelle: Götz Kohlmann/SchönerDenken (Direkter Download der Episode über rechte Maustaste)
Milan Kundera
Das Fest der Bedeutungslosigkeit
144 Seiten, 16,90 Euro, Hanser
ISBN 978-3446247635