Unglaublich, entsetzlich… die Superlativen des Grauens sind beinahe zur Routine geworden. Der 11. September kommt, Reden werden gehalten und Dokumentationen gesendet. Die Gedenkfeiern zum 9/11 sind fast so selbstverständlich geworden wie das Weihnachtsfest. Und doch nur fast. Denn jenseits von Politik und Geschichte bleibt die Erinnerung bei den Opfern und deren Angehörigen am Leben. Allzu schnell wird vergessen, dass dem Anschlag über 3000 Menschen zum Opfer gefallen sind und dass die Überlebenden noch heute mit den Folgen zu kämpfen haben.
Bin Laden und die politischen Konsequenzen beherrschen die Schlagzeilen. Das Schicksal der Opfer dagegen wurde von der Bilderflut hinweggeschwemmt. Die brennenden Twin-Towers, das in Rauch gehüllte Manhattan verdeckten das Leiden derer, die an diesem Tag zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Die Sekretärin, der Fensterputzer oder Fondbuchhalter waren nicht Bestandteil der Berichterstattung. Und doch waren sie die Hauptdarsteller in dem Inferno.
Beklemmend eindrücklich wenden sich Stefan Aust und Cordt Schnibben diesem „blinden Fleck“ in der Berichterstatung zu. Ihr „11. September – Geschichte eines Terrorangriffs“ wendet sich bewußt den Einzelschicksalen zu. Beinahe unerträglich präzise beschreibt er die Verwandlung eines normalen Arbeitstages in ein Katastrophenszenario. Immer wieder beeindruckend auch die Reaktion der Betroffenen. Angefangen von ungläubigem Staunen über entschlossenes Handeln bis zu Agonie und Resignation wird die ganze Palette menschlichen Verhaltens sichtbar. Die Kulisse dazu bildet ein surreales, nur vage vorstellbares Bühnenbild aus brennendem Kerosin, Trümmern und Leichenteilen. Wohlgemerkt wir reden hier nicht von einem Film, die Bilder der Ton-Dokumentation entstehen im Kopf. Bewußt verzichten die Autoren auf Geräusche, nur durch das gesprochene Wort, die nüchterne Schilderung nimmt der Hörer am Geschehen teil. Immer wieder schildert der Sprecher die Situation der Einzelnen, verläßt sie um andere Schicksale zu beschreiben und kehrt zu ihnen zurück. Der Computerfachmann im 78. Stock, die im Aufzug eigeschlossene Frau, die Chancenlosen in der 105. Etage, sie alle rücken abwechselnd in den Mittelpunkt des Geschehens. Ihre Schicksale werden bis zur Unerträglichkeit greifbar.
Sicher, dem distanzierten Hörer drängt sich dabei vielleicht die Frage nach der Authenzität auf. Ebenso mag die minutiöse Schilderung den Vorwurf der Effekthascherei in sich bergen. Beide Einwände sind nicht von der Hand zu weisen. Die zeitgenaue Dokumentation birgt in der Tat das Risiko einer zusätzlichen Dramatik in sich. Ebenso berechtigt ist die Frage: War es denn wirklich so? Sind die geschilderten Einzelfälle repräsentativ? Genauso richtig ist aber auch der Hinweis auf die Grenzen der Dokumentation. Sind solche Jahrhundertkatastrophen wirklich dokumentierbar ohne die dramatischen Begleitumstände zu berücksichtigen, ohne das subjektiv empfundene Leid darzustellen? Verkennt man nicht sogar den Charakter der Situation, wenn man sich auf eine faktenbasierte Darstellung einläßt? Der 11. September wirkte weit über die Grenzen Manhattans hinaus. Menschen aus allen Herren Ländern verfolgten die Ereignisse am Bildschirm, sahen Unglaubliches und forderten Erklärungen ein. Eine Dokumentation ohne menschliches Koordinatensystem gerät schnell in Gefahr das Sensationelle überzubetonen. Aust und Schnibben haben diesen Fehler vermieden ohne dabei ins Pathetische abzugleiten. Das ist das Verdienst dieses Hörbuches.
Stefan Aust / Cordt Schnibben (Hg.)
11. September
Geschichte eines Terrorangriffs
Audio-Verlag
ISBN 978-3898132145
25,99 Euro