Bei Abwesenheit von Liebe

Prof. Pu empfiehlt: Ein Morgen wie jeder andere von Christian Pernath

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Bélouard, Landtierarzt in der Bretagne, belesen, unglücklich, übergewichtig, trockener Alkoholiker, langweilt sich fast zu Tode in seinem immergleichen Alltag.

„Langsam schritt er über den Platz: Sein Gang war schwerfällig, schleppend, und seine korpulente, etwas  plumpe Gestalt steckte in einem Anzug aus billigem Tweed, der an Knien und Ellbogen leicht ausgebeult war; das Hemd noch sauber, ganz annehmbar, wenn auch nicht mehr strahlend weiß, ein wenig so, als hätte der trübe Blick des alten Junggesellen abgefärbt. Die einzige wahre Frage, dachte er, lautet im Grunde: Wird auch der Rest der Zeit, die mir bleibt, derart sterbenslangweilig sein?“

Er erstickt beinahe an Melancholie und Einsamkeit. Bis zu dem Tag, an dem auf einem der umliegenden Höfe ein grausamer Mord an einer Familie geschieht.

„Um halb eins wussten es alle. Mit einem Schlag hatte sich eine ungeheure Fassungslosigkeit über den ganzen Ort ausgebreitet und zugleich eine Art genüsslichen Schauderns.“

Journalisten und Kommissare fallen in seinem Stammrestaurant ein, alte Geschichten kommen wieder ans Tageslicht, die gemächliche Routine der Bewohner wird unterbrochen. Noch dazu findet Bélouard eine von ihrem Mann verprügelte Frau im Straßengraben und bietet ihr Schutz in seinem Haus an. Sie kommt mit. Und er beginnt, völlig verschüttete Gefühle wiederzuentdecken. Plötzlich verspürt er Sehnsucht, freut sich jeden Abend, nach Hause zu kommen, kocht für sie, animiert sie zum Lesen.

„Ich habe gesehen, dass Sie sich einen meiner Valèrys rausgesucht haben“, sagte er, als sie mit dem Essen anfingen. (…)
„Ich habe kein Wort davon begriffen“, sagte sie. (…)
„Ich auch nicht“, gestand er schließlich mit einem gutmütigen Lächeln, das sie schüchtern erwiderte, „ich verstehe auch nicht immer alles. Trotzdem ist Valéry mein Lieblingsautor. Wenn ich ihn lese, ist mir, als würde ich mich mit einem alten Freund unterhalten, als tauschten wir uns über unsere großen Probleme aus … Natürlich ist mein Freund viel klüger als ich, und meist ist er derjenige, der redet, aber es bereitet mir unendlich viel Vergnügen, ihm  zuzuhören. Seine Stimme ist sehr tröstlich.“

Er bringt sie mit seinen amüsanten Geschichten zum Lachen.

„Was haben Sie in der letzten Zeit für Tiere behandelt?“
„Oh …“, sagte er, „am Samstag …“ Dann fügte er hinzu: „… zwei Einhörner und ein Mammut.“
Sie lächelte.
„Was fehlte ihnen denn?“
„Den Einhörnern nichts, es sind Hypochonder. Aber das Mammut hatte ein kleines Ekzem, ich musste ihm den Rücken mit einer Harke kratzen.“
Sie lächelte.
„Hat es ihm gefallen?“
„Ja, sehr. Es hat ihm enorm gefallen … Das einzige Problem war, dass es nur seine Stoßzähne hatte, um mich zu bezahlen, und mir einen geben wollte …“

Doch nachts lauscht er ihrer Verzweiflung und ihren unterdrückten Schreien. Vorsichtiges Vertrauen zwischen den beiden wechselt sich ab mit schroffer Ablehnung ihrerseits. Er erträumt sich ein Leben mit ihr, besucht trotzdem immer wieder ihren Ehemann, der, wie alle prügelnden Männer, tief bereut. Irgendwann befürchtet Bélouard, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren. Bis er seine eigenen Recherchen beginnt, nachdem die Polizei den Apotheker verhaftet hat …

Es geht nicht so sehr um die Morde, sondern viel mehr um die Abgründe der beteiligten Personen, nicht so sehr um die Lösung des Falles als um die Gedanken, den inneren Monolog des Tierarztes. Man begleitet ihn in seiner Melancholie, Verwirrung und Aufgeregtheit. Am Ende könnte man ein wenig mit ihm weinen.

Es ist ein schönes, schwermütiges Buch über die schrecklichen Ausprägungen bei Abwesenheit von Liebe.

Christian Pernath
Ein Morgen wie jeder andere
dtv premium € 14,90
978-3-423-24719-3

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