Wie schafft das Kino bleibende Bilder, wodurch wird aus einem Film mehr als nur vergängliche Bewegung?
© Schramm Film Koerner & Weber
Es gibt Filme von großer handwerklicher Qualität, in denen alles stimmt: die Einstellungen, der Rhythmus, die Schauspieler, die Dialoge – und dennoch fehlt etwas, sie unterhalten, amüsieren, erfreuen, aber es fehlt ihnen die Aura, um über das Gefallen hinaus jenes Gefühl zu bewirken, das man Cinephilie nennen kann.
Susan Sontag schrieb 1995 in ihrem Essay „Ein Jahrhundert Kino“:
„Wenn die Cinephilie tot ist, dann ist das Kino tot … egal wie viele Filme, und seien sie noch so gut, weiterhin gemacht werden.“
Es ist ein guter Test, sich nach einem Film die Frage zu stellen: Bleibt ein Bild? Gab es ein Bild, das mich noch lange begleiten wird? Ein Bild, das den ganzen Film wieder aufzurufen vermag in der Vorstellung. Christian Petzolds Film „Phoenix“ hat solche Bilder und für mich wird es immer der bandagierte Kopf der von Nina Hoss gespielten Auschwitz-Überlebenden Nelly sein und die Zerbrechlichkeit und Zartheit, die sie damit zum Ausdruck bringt.
Es gibt scheinbar immer weniger neue Filme, die die Cinephilie wieder erwecken. Zugegeben, ich gehe selten ins Kino, und führe eine Liste von Filmen, die ich verpasst habe und noch sehen möchte. Immer hoffe ich, dass ich einen dieser Filme lieben werde, wie ich „Angel Face“, „La Grande Illusion“, „Goldrausch“, „The Big Sky“, „My Darling Clementine“ oder „Die 39 Stufen“ liebe. Das Kino war einmal eine romantische Angelegenheit und es funktioniert überhaupt nur als romantische Angelegenheit zwischen dem Betrachter und der Leinwand. Dass Christian Petzold ein Cinephiler ist, merkt man seinen Filmen immer an, und vielleicht keinem bisher so wie „Phoenix“, der sehr offensichtlich Bezug nimmt auf Hitchcocks „Vertigo“ und „Dark Passage“ von Delmer Daves und auf den Stil des „Film Noir“ generell.
Die Idee des Films oder sagen wir, die ursprüngliche Story, die auf Hubert Monteilhets Roman „Le Retour Des Cendres“ zurückgeht, ist reizvoll, doch die Ausführung erscheint konstruiert; die Story benötigte vielleicht eine andere Umsetzung (eine nicht so kammerspielhafte, eine epische, was den Aufwand erfordert hätte, viel mehr Kulissen für Schauplätze im zerstörten Berlin 1945 zu bauen – das hätte dem Film aber der Gefahr einer Künstlichkeit ausgesetzt, die Petzold wohl vermeiden wollte). Statt für den aufwändig rekonstruierten historischen Rahmen mit vielen Komparsen entscheidet er sich also für die Reduktion, die fast alles der Imagination des Zuschauers überlässt.
„Phoenix“, D 2014
Regisseur: Christian Petzold
98 Minuten
Nina Hoss trägt den Film auf ihren schmalen Schultern und sie ist, wie schon in früheren Petzold-Filmen, wunderbar. Kann man jedoch über den Holocaust einen Genrefilm drehen, ein Liebes-Melodram mit dezenten Thrillerelementen? Der Schriftsteller Jorge Semprun, ein Überlebender des KZ Buchenwald, sagte einmal, er wünsche sich, dass junge Erzähler der heutigen Zeit unbefangene Geschichten über Auschwitz erzählten, abenteuerliche, spannende Geschichten, um so dem Vergessen entgegen zu wirken. Dieser Film markiert durchaus dieses neue Stadium, dasjenige des Geschichtenerzählens, nicht mehr der Trauerarbeit, der Aufarbeitung, der Anklage. Fassbinders „Die Ehe der Maria Braun“ ist ein Bezugspunkt. Was hätte Fassbinder aus dieser Geschichte gemacht? Er liebte das Melodram, liebte die Filme von Douglas Sirk. Petzolds Kino ist Kopfkino, kein Bauchkino. Seine Filme stellen ihren Stil zur Schau, erzählen kühl ihre Geschichten voller Leidenschaft und Dramatik.
Wenn ein Film in platter, plakativer Weise von den letzten Tagen im Führerbunker erzählen darf, dann sollte doch ein sensibler, reflektierter Film eines skrupulösen Regisseurs wie Petzold allemal von den Opfern erzählen dürfen. „Der Untergang“, aber auch „Schindlers Liste“ waren im Vergleich zu „Phoenix“ tatsächlich obszön. Ob es überzeugend gelingen kann und überhaupt notwendig ist, was Petzold versucht. Darüber lässt sich gewiss streiten.
Schramm Film Koerner & Weber
Petzold weiß um die Fallen des Ausstattungsfilms, um die Gefahr, dass es fast immer falsch wird, wenn man Statisten in Nazi-Uniformen steckt, dass das vielleicht seit „Sein oder Nichtsein“ und „Der große Diktator“ nur in Komödien ohne Bauchgrimmen möglich war. Aber er macht aus der Not eine Tugend. Er setzt nicht auf opulente Ausstattung, orientiert sich am Stil amerikanischer B-Movies und dreht viele Szenen an Orten, wo sich das Ambiente seit jener Zeit nicht verändert hat. Man hört die belebte Straße, aber man sieht sie nicht. Petzolds Kino der Andeutungen und Auslassungen steht visuell, formal, nicht thematisch, einem der großen, strengen Asketen des Kinos nahe: Robert Bresson. Auch Ingmar Bergmans Stil hat bei ihm Spuren hinterlassen. Und es gibt eben auch immer die Verbeugung vor dem Hollywood-Kino (bis 1980) und auch vor den Werken der Nouvelle Vague.
Nelly hat Auschwitz überlebt und kehrt bald nach dem Krieg nach Berlin zurück. Ihr Gesicht wurde von Schusswunden zerstört. Lene (Nina Kunzendorf), eine Freundin, die sich um Nelly kümmert und bei der Jewish Agency ist, bringt Nelly zu einem Gesichtschirurgen (Michael Maertens). Der versteht nicht, dass Nelly möglichst wieder so aussehen möchte wie zuvor. Alles soll wieder so werden wie früher. Sie will ihren Mann finden. Der hatte sie, die Jüdin, offenbar an die Gestapo verraten, was sie nicht weiß oder nicht wahrhaben will. Als sie ihrem Mann (Ronald Zehrfeld) dann in einem Nachtlokal wieder begegnet, erkennt er sie nicht.
Früher waren sie zusammen aufgetreten: er als Pianist, sie als Sängerin. Nun sieht er, der in ärmlichen Umständen haust und als Kellner arbeitet, die Möglichkeit, seine tot geglaubte Frau wieder auferstehen zu lassen, um so gemeinsam mit der „Wiedergängerin“ an deren Vermögen heranzukommen. Nelly lässt sich auf das Spiel ein. Denn sie hofft, so ihre frühere Identität und ihre Liebe neu zu erschaffen. Nachdem die Verwandlung Nellys in Nelly vollzogen ist, treten sie am Bahnhof einer Gruppe von Verwandten gegenüber und nun entscheidet sich, ob Johnny an das Erbe kommt; eine Art Western-Showdown ist dieses Finale. Während wir erleben, wie sich Nellys positiver und Johnnys negativer Egoismus duellieren, zerbricht Lene unter der Last der Schicksale, mit denen sie in den Akten der Jewish Agency konfrontiert wird, sie zerbricht an ihrem Altruismus, und an ihrer Klarsicht.
Glauben wir diese Geschichte oder anders gefragt, was hätte Petzold tun können, dass wir ihm die Geschichte mehr glauben, so wie wir Hitchcock den haarsträubenden Plot von „Vertigo“ glauben. Doch Hitchcocks Film bewegte sich im Reich reiner Phantasie, nicht vor dem Hintergrund schrecklicher, tatsächlicher historischer Ereignisse. Oder ist sogar unser Zweifel Teil der Geschichte, die von Petzold erzählt wird. Stellt uns der Film bewusst die Frage: Lässt sich das so erzählen, kann man sich so mit deutscher Vergangenheit auseinandersetzen? Petzolds vorheriger Film, der in den letzten Jahren der DDR spielte, war überzeugender, makelloser, geschlossener. „Phoenix“ macht sich angreifbarer, will das auch sein.
Text und Podcast
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CC-Lizenz BY-NC-ND 4.0
Quelle: Götz Kohlmann/
SchönerDenken
Es geht Nelly nicht um Politik und Ideologie, sie teilt nicht den Rigorismus von Lene, sie reagiert teilnahmslos auf deren Vorschläge, bald nach Palästina auszuwandern, auf Erwähnungen einer Wohnung in Haifa oder Tel Aviv, auf die Vision eines jüdischen Staates. Nelly lebt nicht für politische Ideale oder irgendeinen gesellschaftlichen Aktivismus; sie hat nach eigenen Worten Auschwitz überlebt, weil sie immerzu an Johnny dachte; ihn wieder sehen zu wollen, gab ihr Kraft.
@ Schramm Film Koerner & Weber
Was ist geblieben – nach dem Krieg, nach dem Zivilisationsbruch der Nationalsozialisten? Oft raschelt das Laub der Baumkronen, hört man Straßengeräusche, Kinderstimmen in „Phoenix“. Die Geräusche der Natur, des Alltags, der sich wieder einstellt – steht das für Gleichgültigkeit, Unschuld, so als sei nichts gewesen? Nein, das Leben geht nur einfach weiter, gleich wie sich der Einzelne zu dem Geschehenen stellt, gleich wie viel eingestandene und uneingestandene Schuld die Menschen in sich tragen. Gibt es noch etwas, das Auschwitz und den Krieg unversehrt zu überdauern vermag? Kann auch das Innerste eines Menschen unberührt bleiben, kann er gegenüber der Macht einen unzerstörbaren Kern bewahren, wenn er liebt, wie Nelly liebt? Auch wenn sich diese Liebe im Nachhinein als Trug herausstellt.
Lene vertritt die Position des Urteils, der Moral. Johnny die Position des Zynismus, des Egoismus. Nelly urteilt nicht, moralisiert nicht. Sie verdrängt aber auch nicht, ist sich des überstandenen Grauens bewusst. Sie will es nicht glauben, als Johnny sagt, niemand werde sie nach ihren Erfahrungen in Auschwitz fragen, von denen sie ihm gegenüber nur stammelnd sprechen kann, aber durchaus bereit ist zu sprechen, irgendwann. Und jedem, der eine Lüge über Auschwitz ausspricht, würde sie die Wahrheit entgegen halten, nicht empört, nicht auftrumpfend, sondern zart und ein wenig erschrocken über die Stumpfheit der Menschen. Sie glaubt einfach an ihr Recht, auf ein würdiges Leben und trotz Auschwitz an dieses vage Unzerstörbare in dieser Menschenwelt. Sie folgt der Illusion, an die Vergangenheit anknüpfen zu können. Das erhält sie aufrecht. Illusionen halten am Leben, sind hilfreich für eine Weile in ausweglosen Situationen. Lene ist illusionslos, realistisch – und hält es nicht aus.
Indem sich Nelly auf Johnnys Spiel einlässt, erobert sie sich ihre Identität zurück. In der letzten, einer grandiosen Szene ist sie wieder ganz bei sich.
Das Ungeheuerlichste ist – und das macht Nelly ganz und gar zu einer Petzold-Figur, dass sie zeigt, dass der Einzelne unter der Last der Geschichte nicht zusammenbrechen muss, dass er widerstehen kann und dass die Würde des Menschen, die Hoffnungen, Wünsche, Träume des Einzelnen immer bedeutender sind als der von der Macht zubereitete Horror. Sie hat den Holocaust überlebt, sie kehrt in ein zerstörtes Berlin zurück, doch für Nelly zählen zunächst nur ihre Suche und die Wiederherstellung der Innenansicht ihres Lebens vor dem Krieg. Das ist wie der gesamte Film in seiner Konsequenz fragwürdig und großartig zugleich.