[display_podcast]
J.D. Salinger wollte irgendwann kein öffentlicher Schriftsteller mehr sein. Seit 1965 schweigt er. Götz wirft einen Blick auf sein Leben und Werk. Im lange erwarteten zweiten Teil beleuchtet er Salingers Werke und seine Probleme mit dem Ruhm.
Im befreiten Paris macht Salinger Hemingway seine Aufwartung, der im Hotel Ritz logiert. Doch der Krieg ist noch nicht zu Ende. Es folgen die Schlacht im Hürtgenwald, schrecklicher noch als der D-Day, und der Vormarsch innerhalb Deutschlands. Im Juli 1945 erleidet Salinger einen Nervenzusammenbruch. Einem Brief an Hemingway zufolge wird er in einem Krankenhaus in Nürnberg behandelt. Bevor er im November aus der Armee entlassen wird, heiratet er eine Französin, die ihn während seiner Krise offenbar psychologisch betreut hatte.
Das Paar geht aber schon nach wenigen Monaten wieder auseinander. Zurück in den USA treibt Salinger seine literarischen Pläne voran; er hat inzwischen eine Vielzahl von Kontakten geknüpft. Doch nun tritt auch mehr und mehr jener Konflikt hervor, der dazu beitragen sollte, dass Salinger sich knapp zwanzig Jahre später vollständig und endgültig in die Anonymität zurückziehen sollte. Er rückt ab von der „Professionalität“, die ihm anfangs so wichtig gewesen war. Denn das Autorendasein führt zu Kompromissen, die Salinger weniger und weniger einzugehen bereit ist.
Keine Kompromisse
Die kommerzielle Seite des Literaturbetriebs widert ihn an. Er will zum Beispiel kein Foto von sich auf dem Schutzumschlag seiner Bücher dulden. Er streitet sich mit seinem Verleger, mit seinem Lektor, mit Zeitungsredaktionen, ist nicht mehr bereit, irgendwelche Kürzungen oder Änderungen an seinen Texten zuzulassen. Die Gegenseite nimmt ihn als arrogant wahr. Er erwirbt sich einen Ruf als Kauz und Sonderling. Im April 1950 erscheint „Für Esme´“ im Magazin „The New Yorker“. Im Juli 1951 schließlich wird „Der Fänger im Roggen“ veröffentlicht. Laut Ian Hamilton erbat sich Salinger, keine Kritiken des Romans zu erhalten und versuchte die Werbeaktivitäten des Verlags einzuschränken. Die Vermarktung seines Werks war Salinger offensichtlich ein Graus. Immer wieder musste ihm gut zugeredet werden.
Als der „Fänger“ erscheint, ist Salinger in Großbritannien und Irland auf Reisen. Die ersten Kritiken, von denen er angeblich nichts wissen will, überbieten sich gegenseitig in Bewunderung und Erstaunen über die Originalität des Romans. „Der Fänger im Roggen“ wird ein Bestseller und Salinger hadert monatelang damit, überall seinem Foto zu begegnen. Aus dem Bestseller wird später ein Longseller. Noch heute verkauft sich das Buch weltweit blendend.
Salinger fällt es schwer, seinen Ruhm zu verkraften. Die Tendenzen zum Eskapismus nehmen zu. Außerdem hat er die Lehre des Zen-Buddhismus für sich entdeckt. Sie wird fortan in fast allen seinen Texten ein wichtiger Bezugspunkt sein. Für Salinger verbindet sich das Schreiben nun mit der „Suche nach Erleuchtung“. Freundinnen empfiehlt er Bücher über Zen und seinen britischen Verleger Hamish Hamilton bekniet er, ein tausendseitiges Werk des Sri Ramakrishna herauszugeben. Ramakrishnas Lehren zielen auf Entsagung und Salinger, inzwischen Mitte dreißig, meint es ernst damit. Der Lehre des „Meisters“ gemäß will er in der Einsamkeit meditieren, um zur Gelassenheit zu finden. Im Winter 1952/53 lässt er sich in einem Cottage in Neu-England nieder, zunächst „ohne Heizung, Elektrizität und fließendes Wasser“. Dort in Cornish, New Hampshire, soll J.D. Salinger noch heute leben.
Der Zauber des Zen
Einige der schönsten Stellen in Salingers Werk verdanken ihren Zauber der Zen-Philosophie. In „Seymour wird vorgestellt (Seymour: an Introduction)“ erzählt Buddy Glass, wie er als Achtjähriger mit einem anderen Buben zur magischen Stunde der Dämmerung auf der Straße Murmeln spielt. Buddy ist in gewisser Weise Salingers Alter Ego in seinem „Spätwerk“, das ausschließlich – soweit es bis heute vorliegt – den Kosmos der vielköpfigen New Yorker Familie Glass entwirft. Buddy spielt also Murmeln als Seymour hinzukommt. Seymour, zehnjährig, schaut sich das Spiel eine Weile an und gibt den beiden dann den Rat, „nicht zu sehr zu zielen.“ Nicht krampfhaft und bewusst soll das Ziel anvisiert werden, sondern beiläufig, unbewusst, ohne Selbstbeobachtung. So lehren es auch die japanischen Zen-Meister die jungen Bogenschützen. Sie sollen zielen ohne zu zielen. Um Seymours intuitive Murmelspiel-Anweisung zu verstehen, müsse man auch gar nicht in fernöstlichen Philosophien fischen, es genüge an die Kunst mancher Raucher zu erinnern, eine Zigarettenkippe quer durch ein Zimmer in einen Mülleimer zu schnippen, fährt Buddy fort. Dies gelinge nur dann, wenn man entweder keinen Deut darum gebe, dass die Kippe wirklich in dem Korb landet oder wenn keine Augenzeugen im Raum seien, genaugenommen inklusive des Rauchers selbst.
Noch ein Beispiel: In dem schon erwähnten „Franny und Zooey“ erinnert sich Zooey, ein um einige Jahre jüngerer Bruder von Buddy und Seymour Glass, daran, wie Seymour ihn einmal vor einer Ausgabe der Radio-Quizsendung „Das kluge Kind“, aufforderte, sich die Schuhe zu putzen. In dieser Radiosendung traten die genialischen Sprösslinge der Familie übrigens sämtlich auf. Zooey erzählt, er habe darauf wütend und bockig reagiert. Er habe es überhaupt nicht einsehen wollen, was es für einen Sinn mache, sich für einen Auftritt im Radio die Schuhe zu putzen. Seymour sei aber unnachgiebig gewesen und habe gesagt, Zooey solle sich die Schuhe für die Dicke Frau putzen, ohne zu erläutern, was er damit meinte. Und er, Zooey, habe sie sich als einsame alte Frau vorgestellt, die den ganzen Tag zu Hause sitzt, mit voller Lautstärke Radio hört und wahrscheinlich Krebs hat. Und es sei ihm vollkommen klar geworden, dass Seymours Anliegen Sinn hatte.
Sentimentale Liebe
Salingers Obsession für die im Show-Business verwurzelte Glass-Familie, die so etwas wie das übersteigerte Urbild aller amerikanischen Fernsehserienfamilien ist, löste bei vielen Kritikern Befremden aus, auch bei denen, die ihm bisher wohlgesonnen waren. John Updike schrieb, die Erfindung der Glass-Familie sei für Salinger eine „Eremitage“ geworden und hielt dem Kollegen eine zu ausschließliche, sentimentale Liebe zu seinen Geschöpfen vor. Gerade die Sentimentalität macht Salinger jedoch zu einem großen Dichter. Diese Liebe Salingers zu seinen Geschöpfen, die man in jeder Zeile spürt, ist es gerade, was die Lektüre zu solch einem Genuss macht. Denn diese Figuren treten uns berückend anschaulich und lebendig entgegen, so sehr, dass man eher einen Film zu schauen als ein Buch zu lesen meint. Aus Salingers Werk spricht wie als Gegenpol zu seiner misanthropischen Lebensweise eine tiefe Liebe zum Menschen, die frei von jedem Zynismus ist, und ihn zu anderen großen Humanisten unter den Künstlern wie Rembrandt, Tolstoi und Jean Renoir gesellt. Wir wissen es nicht, ob die Erfindung der einst erfolgreichen Varietékünstler Les und Bessie Glass und ihrer sieben ungewöhnlichen Kinder, für Salinger zu einer Sackgasse wurde oder ob er an der Familienhistorie in seiner Einsiedelei noch fortgeschrieben hat.
Ein „Vollpoet und Gott-Kenner“
Seit der Erzählung „Hapworth 16,1924“, die am 19. Juni 1965 im „New Yorker“ erschien, schweigt der Dichter. Salinger hat klassische, mustergültige Short Stories geschrieben, etwa „Unten beim Boot“; er hat das Genre aber auch aufgesprengt und weitergeführt. So auch in dieser „letzten“ Story, die ein einziger langer Brief ist; der siebenjährige Seymour schreibt aus dem Ferienlager nach Hause. Seymour tritt in mehreren Werken Salingers leibhaftig oder als Gesprächsinhalt seiner Geschwister auf. In der Kurzgeschichte „Ein perfekter Tag für Bananenfisch“, die den Zyklus der „Neun Erzählungen“ eröffnet, lässt Salinger Seymours Leben, wie bereits erwähnt, durch Selbstmord enden. Dort tritt Seymour zum ersten Mal auf und diese schockierend verlaufende Geschichte bildet quasi die Folie für Seymours spätere Auftritte. Es handelt sich bei ihm um eine äußerst extravagante, komplexe, aber dabei liebenswürdige Persönlichkeit, hochintelligent und hochgefährdet zugleich. Ihr hat Salinger gewiss auch einiges von seinem eigenen Naturell mitgegeben. Notwendigerweise, möchte man sagen, heißt denn auch die umfangreichste Erzählung, die sich Seymour widmet: „Seymour: an Introduction“, damit andeutend, dass mehr als eine Einführung über ihn zu verfassen, ein waghalsiges Unterfangen wäre.
Buddy versucht uns, seinen Bruder vorzustellen, versucht, denn die Vorstellung vollzieht sich unter allerlei Not, Atempausen, Einschüben, Umwegen. Kein Wunder, denn bei Seymour handelt es sich laut Buddy um einen „mehr oder weniger berüchtigten Mystiker und Labilen“, um einen „Vollpoeten“, „glasklaren Erleuchteten“ und „Gott-Kenner“. Sieben seiner Kinderjahre war Seymour ein Star in dem in ganz Amerika ausgestrahlten Quiz-Programm „Das kluge Kind“. Um es mit einem Wort zu sagen: Seymour ist eine Jesusgestalt, wie seit Dostojewskijs Romanen keine mehr in der Literatur aufgetreten ist. Buddys Einführung läuft darauf hinaus, dass Seymour vor allem anderen ein Dichter war. Allerdings präsentiert er uns, es war bei Salinger ja nicht anders zu erwarten, einen Autorencharakter, der ganz und gar nicht mit den Gepflogenheiten des Literaturbetriebs kompatibel ist. Seymour hat angeblich 184 herrliche Gedichte verfasst, die jedoch unveröffentlicht sind und es wohl auch bleiben werden.
Doch für Buddy entscheidet die Zeit, wer ein großer Schriftsteller ist, und es entscheiden nicht die Verleger, Kritiker und sonstigen Experten. Seymours Begabung war nach Buddys Meinung so großartig, dass sie nicht auf den literarischen Markt getragen werden sollte. „Mitunter bin ich fast überzeugt davon“, schreibt Buddy, „dass wir lediglich drei oder vier nahezu unentbehrliche Dichter haben, und ich denke, dass Seymour schließlich unter ihnen sein wird…“ – „Schließlich“, irgendwann also in ferner Zukunft. Gegenwartsliteratur ist unter diesem Blickwinkel grundsätzlich immer fragwürdig, wie auch die Existenz des Schriftstellers überhaupt.
Zu allen Zeiten war es so, viele der in der Gegenwart gefeierten Autoren gerieten wieder in Vergessenheit, während mancher, der im Verborgenen schrieb noch heute einen großen Namen hat. Wohl gibt es auch die Klassiker zu Lebzeiten, einen Grass oder einen Handke oder eben einen Salinger, doch wenige sind es, die in diesen Rang vordringen. Man könnte sich zu dem Spruch versteigen, dass ein Dichter erst tot sein muss, um als wahrhaft guter Dichter erkannt werden zu können. In der Erzählung „Franny“ ruft Frannys Freund Lane aus: „Mein Gott, muss man denn tot (sein), um ein richtiger Dichter zu sein?“ Zuvor hatte er zwei Englischprofessoren erwähnt, die doch wenigstens Dichter seien und Franny hatte dies vehement bestritten. Sie seien keine richtigen Dichter. Das sei jemand, der etwas Schönes hinterlasse.
Auch Kafka wusste, was für eine Tollkühnheit es ist, sich als Autor in die Öffentlichkeit zu begeben. Er trat nach wenigen Publikationen den Rückzug an und Jahrzehnte später tat es ihm Salinger, der Kafkas Werk sehr gut kannte, gleich, wenn auch aus einer weit berühmteren Position heraus, als der zu Lebzeiten nur Insidern bekannte Kafka. Die „Unentbehrlichen“, wer sind sie? Für jeden Leser sind es diejenigen Autoren, die er wieder und wieder lesen möchte, deren Bücher auch bei wiederholter Lektüre wie neu für ihn sind, in jedem Fall ein erneuter Genuss.
Im dritten Teil geht Götz auf Kafka und Pynchon – und die Simpsons – ein.