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Podcast 20
Hendriks imaginäre Anthologie,
NICER FICTIONS, Band 1,
Neunte Geschichte
Edward Bryant
PRÄZESSION
(Precession, 1980)
„Ich dachte, wir könnten in den Park fahren.“
„Es ist Feb- …“
„Juli“, unterbrach sie mich hastig. „Ein herrlicher Sommertag. Kann ich kurz deine Toilette benutzen, ehe wir losziehen?“
„Natürlich“, entgegnete ich, erneut besiegt von Tempo und Zeit.
Einige der beunruhigendsten Lesemomente beschert uns die SF, wenn sie von Konflikten der Wahrnehmung mit einer Realität erzählt, die sich beharrlich weigert, so zu sein, wie wir sie begreifen wollen. Manchmal entstehen auf diesem Wege sehr amüsante Gedankenspiele mit Zeitreisen und Parallelwelten, entspannend fiktive Geschichten um denk- und erzählbare Was-wäre-wenns. Aber hier und da rückt uns die SF aus unerwarteter Richtung auch sehr eng auf die Pelle und erinnert uns daran, daß die fremden Universen nur die Schattenbreite der eigenen Wahrnehmung entfernt sind.
Wer hat sich nicht schon einmal angesichts der Äußerungen eines Mitmenschen befremdet gefragt „In welcher Welt lebt der eigentlich?“. Die SF zeigt uns, daß das Raum-Zeit-Kontinuum im Kopf des Menschen, der neben uns sitzt, bereits völlig fremdartig beschaffen sein mag. Und ab und an geht sie noch einen Schritt weiter und zeigt uns, wie unselbstverständlich und papierdünn die Grundfesten unserer eigenen Welt sind.
Das mögliche Mißverständnis dieser Art zu denken, lautet folgendermaßen: Das Wunder besteht nicht darin, daß jeder Mensch ständig sein eigenes Universum erschafft und erneuert. Eigentlich besteht umgekehrt das Wunder darin, daß wir uns überhaupt je wahrnehmen, begegnen, erkennen, berühren, verstehen können.
Ich fand diese Geschichte in: „Grenzflächen“, herausgegeben von Ursula K. LeGuin und Virginia Kidd, Heyne Verlag, München.